Mitmach-Aktion: Schulstory - Der Schulbus

Wie fast jeden Tag in diesem November so graute auch dieser Morgen mit feuchter Kälte und Nebelschwaden über der Landschaft. „Morgengrauen ist das Grauen, dass einen befällt, wenn man morgens in die Schule muss“, witzelte Lisas großer Bruder immer wieder gern. Ein Satz, über den die 13-jährige zwar lächeln konnte, der aber auch eine bittere Wahrheit in sich barg.
Mit schweren aber hastigen Schritten bewegte sich das Mädchen Richtung Bushaltestelle, denn es war schon fünf nach sieben und der Schulbus wartete nicht. Gaby und Andrea, die Lisa schon seit dem Kindergarten kannte, waren gut zwanzig Schritte vor ihr. Sie wollte sie nicht einholen, seit ein paar Jahren hatte sie den zwei Freundinnen nicht mehr viel zu sagen, seit sie Lisas Schwäche, nicht lügen zu können, erkannt hatten und sich nun täglich einen Spass daraus machten sie vor der ganzen Klasse bloß zu stellen.
Es war nicht leicht das Tempo zu halten um den beiden nicht zu nahe zu kommen. Die Mädchen gibbelten und lachten laut über irgend einen Unsinn. 'Hoffentlich lachen sie nicht wieder über mich.', dachte Lisa.
Übelkeit und weiche Knie waren Lisas tägliche Begleiter durch sechs qualvolle Schulstunden und bei dem Gedanken daran, setzte dieses Magengrummeln wieder ein. Es gab kein Entkommen.
„Du kannst nicht zu hause bleiben. Schule ist wichtig für deine Zukunft!“, hatte die Mutter auch diesen Morgen Lisas Flehen abgeschmettert. „Hör einfach nicht hin, wenn die anderen dummes Zeug über dich reden, es darf dir doch nicht so wichtig sein, was andere über dich denken.“, Mamas Worte klangen noch in ihren Ohren, als Lisa an diesem Morgen den Schulbus betrat.

Diesen Moment hasste sie ganz besonders in das schwankende Gefährt einzusteigen. 'Es ist nicht wichtig was die anderen über dich denken!' mit Mamas weisem Ratschlag versuchte Lisa ihren Puls nach unten zu regulieren, was ihr aber nicht wirklich gut gelang.

Mit lauten und überschwänglichen Worten freuten sich Gaby und Andrea darüber, dass es heute wieder ein „Reisebus“ war, hier waren die Sitze bequem und mit feinem Stoff bespannt. Nicht wie in den „Schrottbussen“ wie die Schüler sie zu nennen pflegten, die nicht selten einen Geruch von altem Pausenbrot von letzter Woche hatten … manchmal sogar unerklärlicherweise irgendwie nach Pippi.

Aber heute nicht! Heute hatte Antonio, der kleine italienische Busfahrer, einen schönen Reisebus für 'seine Truppe' ergattert und feierte dies indem er eine Kassette mit den neuesten Chart-Hits über die Lautsprecher dudeln lies.

Zielsicher steuerten Gaby und Andrea auf ihre Clique zu, die ihnen Plätze reserviert hatte. Stilsicher begrüßte man sich mit High Five's und lautem Gejohle. Verstohlen blickte Lisa zu dem Grüppchen herüber. Irgendwie hätte sie ja gern dazu gehört, aber irgendwie auch nicht. Nein, lieber weiten Abstand halten ... den ganzen Tag von jetzt an! Aber der Strom der nachrückenden Schüler drängte Lisa unerbittlich auf die beiden verhassten Mädchen zu.
„Ist leider kein Platz mehr frei, Lisa.“, lächelte Gaby Lisa an, oder war es eher ein Grinsen?
„Macht doch nichts.“, Lisa hoffte, dass dies möglichst lässig rüber kommen würde, glaubte aber selbst nicht dran und versuchte nur krampfhaft Gaby's Blick auszuweichen, der heute wieder besonderes vorwitzig war.
Lisa kannte diesen Blick nur zu gut, zu gern hätte sie jetzt das Weite gesucht, aber eingekeilt zwischen all den Schülern die keinen Sitzplatz ergattert hatten, gab es auch hier kein Entkommen. Hitze stieg ihr in den Kopf und inständig hoffte sie, niemand würde ihre aufkeimende Panik bemerken. Starrte Gaby sie an? Lisa wagte nicht das nachzuprüfen und richtete den Blick stur aus dem Fenster auf die vorbeiziehende Landschaft. Einfach nur die Bäume angucken und sich nichts anmerken lassen und fast wäre es Lisa gelungen die beiden Lästermäuler auszublenden, als sie unverhofft ein Zwicken in der Kniekehle verspürte.
'Keine Panik Lisa, dass ist nur dein Hintermann und es liegt daran, dass der Bus so schaukelt.' Gaby und Andrea gibbelten zwar, aber das taten sie ja immer, dass musste nichts heissen. Aber da war es schon wieder, dieses Zwicken in der Kniekehle. 'Bloss nicht beachten', hatte Mama gesagt aber Lisas Blick wurde immer starrer und ihre Lippen begannen zu beben.
Ein drittes Zwicken und lautes Gelächter.
'Sie wollen mich doch wieder ärgern. Man, die Weiber sollen mich einfach nur in Ruhe lassen! Was hab ich ihnen denn getan?',
konnte es wohl schaden einen Blick zu riskieren? Verstohlen nahm Lisa aus den Augenwinkeln wahr wie Gaby und Andrea sich vor Lachen ausschütteten.
Es war ja nicht wichtig, was andere über einen denken. Nein das war es wirklich nicht! Trotzdem stach es in Herz und Magengrube. Laut hörbar atmete Lisa tief ein um die aufkommenden Tränen zu unterdrücken …. 'Jetzt nur nicht zu weinen anfangen!!' ... wenn das mal so einfach wäre …

Vergeblich ließ das Mädchen den Blick durch den Bus schweifen, auf der Suche nach ein wenig Unterstützung, und sei es wenigstens etwas wie: „Sie dürfen das nicht mit dir machen!“ in ihren Augen zu erlesen. Aber ein notorischer Aussenseiter hat keine Hilfe zu erwarten. Diese bittere Erkenntnis breitete sich nun aus in Lisas Kopf, begann dort zu wummern und zu rumoren.
Ein Aussenseiter hat keine Hilfe zu erwarten …
Ein Aussenseiter hat keine Hilfe zu erwarten …

Würde sie selbst es denn anderes machen?

Vergangene Gesprächsfetzen vermengten sich mit der aufsteigenden Panik und Lisas Atem wurde schwerer. Angstvoll blickte sie in Gabys übermütig lachendes Gesicht und als diese den Blick erwiderte, wurde das Lachen nur noch lauter, fast schon hysterisch, ob der Panik in Lisas Augen.

Ein Aussenseiter hat keine Hilfe zu erwarten … aber warum eigentlich nicht? Warum muss ich mir das immer wieder gefallen lassen?
Warum lasse ich mir das immer wieder gefallen?
Sie hat kein Recht dazu, die blöde Kuh!

Eigentlich wollte Lisa Gaby nur drohen, als sie mit dem rechten Arm ausholte. Gaby sollte einfach nur aufhören zu lachen und zu kneifen und bestimmt wäre nichts weiter passiert, wenn Gaby nun Ruhe gegeben hätte. Aber das tat sie nicht. Im Gegenteil! Gaby stieß nur ein höhnisches „Oooohhh!“ aus, als wolle sie sagen 'Das wagst du ja doch nicht!'
… aber da war es schon zu spät.
Es war wohl der Mut der Verzweiflung, der Lisa richtig ausholen und einen kräftig roten Abdruck auf Gabys Wange hinterließ. Augenblicklich war Gaby's Lachen verstummt und wich einer ganz und gar verwirrten Fassungslosigkeit.
Lisa konnte erst gar nicht begreifen, dass sie es wirklich getan hatte. Hätte Mama das gesehen, was hätte sie dazu wohl gesagt? Schließlich ohrfeigt man nicht einfach andere Menschen!
Doch dafür war es jetzt zu spät und beinahe schämte sie sich ein wenig für diese ungeheure Tat.

Wieder blickte Lisa sich um im Bus. Aber diesmal war es anders! Teils verstohlen aber teils auch ganz offen blickten die umsitzenden Schüler dem Mädchen in die Augen.
„Das hast du gut gemacht.“, sagten diese Blicke jetzt.

'Das hast du gut gemacht und jetzt sei stolz auf dich!', dachte Lisa still bei sich und verbrachte den Rest des Tages mit einem nie gekannten, seligen Grinsen im Gesicht.

Autor:

Imke Schüring aus Wesel

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