Gasshuku 2024
Karate-Marathon und Glückshormone in Baden-Baden
Was für die Olympioniken in Paris das Edelmetall war, stellte für die knapp 1000 Teilnehmer*innen des 50. Karate-Gasshukus in Baden-Baden das Erreichen einer komplett abgestempelten Trainingskarte dar.
Veranstaltet wurde das vom 29. Juli bis 02. August 2024 andauernde Sommertrainingslager vom Deutschen JKA-Karate Bund e.V., dem deutschen Verband der Japanischen Karate Association, unter der Leitung von Shihan Hideo Ochi (9. Dan). Zu den Stars neben dem deutschen Trainerteam um Nationalcoach Thomas Schulze, bestehend aus Toribio Osterkamp, Julian Chees, Markus Rues, Andreas Klein, Pascal Senn und Risto Kiiskilä, gehörten der aus Tokio angereiste Nationaltrainer und JKA-Instructor Kobayashi Shihan sowie der JKA-Instructor und Kumite-Champion 2023, Igarashi Sensei.
Ungeachtet ihres Alters wurden die aus ganz Europa angereisten Teilnehmer*innen in fünf Leistungsgruppen zu je etwa 200 Karatekas aufgeteilt, die von Jugendlichen bis zu erfahrenen über Siebzigjährigen reichten. Trainiert wurde dreimal täglich, außer am freien Mittwochnachmittag, in zwei miteinander verbundenen Großsporthallen des auf einem Berg gelegenen Schulzentrums West.
Ganz gleich, ob als Hotelgast, Mieter einer Ferienwohnung oder Camper auf dem Zeltplatz, der Weg zur Trainingshalle forderte unsere, im Laufe der Woche ohnehin geschundene Beinmuskulatur, in allen Fällen gleichermaßen erheblich.
Zur Stärkung von Körper und Geist bot das Karate Dojo Makoto Baden-Baden e.V. als Ausrichter, ganztägig reichhaltige Verpflegung in der Mensa des Richard-Wagner-Gymnasiums an, die zugleich als Treffpunkt für das Rahmenprogramm diente.
Mit dem Startschuss zur ersten von vierzehn Trainingseinheiten, begann am Morgen des 29. Juli um 7:00 Uhr, unsere mentale wie physische Berg- und Talfahrt durch das Karate-Universum.
Begonnen wurde in meiner Gruppe ab 3. Dan, jeden Morgen mit den im Detail ausgearbeiteten Formenläufen der Katas Chinte, Kanku Sho, Gojushiho Sho, Sochin und Bassai Sho. Hierzu wurde die jeweils anstehende Kata, welche einen Kampf gegen mehrere imaginäre Gegner darstellt, in einzelne Sequenzen zerlegt. Am ersten Tag war es die Chinte (seltene Hände) bei Sensei Julian Chees (6. Dan). Jede dieser Katas besitzt charakteristische Eigenschaften, inklusive Taktiken und Distanzen. Das gesamte Repertoire an Karatetechniken findet hier seinen Einsatz um äußeren Angriffen gekonnt und kraftvoll begegnen zu können. Da ein Großteil dieser Anwendungen, ernsthafte Verletzungen verursachen können, dienen diese ausschließlich zur Selbstverteidigung, nicht dem sportlichen Zweikampf. Nach unzähligen Wiederholungen der einzelnen Sequenzen folgte die Anwendung am Partner bevor die Kata abschließend als Gesamtablauf zusammengefügt wurde. Der tägliche Besuch dieser Einheit wurde mit je einem Stempel auf der Trainingskarte und einer einstündigen Pause belohnt.
In den beiden hierauf folgenden 75 minütigen Trainingseinheiten von 9:00 - 10:15 Uhr und 12:30 - 13:45 Uhr, forderten uns nicht nur die leitenden Instructoren auf, sich gänzlich oberhalb der persönlichen Komfortzone zu bewegen, auch die inzwischen tropischen Temperaturen um 34°C verlangten zudem ihren additiven Tribut.
Wer glaubte, moderat mit leichten Leistungssteigerungen in die Woche starten zu können, wurde spätestens nach der Aufwärmgymnastik der zweiten Trainingseinheit auf den Boden der Tatsachen geholt. Shihan (Großmeister) Kobayashi (7. Dan) führte in beeindruckendem Ganzkörpereinsatz Angriffs- wie Verteidigungstechniken vor, die in Anlehnung an die zuvor erlernte Kata den Schwerpunkt auf Selbstschutz legten. Hierbei handelte es sich um zielgenaue Fingerstöße, Handschläge mit der Innen- und Außenseite, Ellenbogenanwendungen verschiedenster Art, zeitgleiche Block-Kontertechniken und Handballenstöße! Komplettiert wurden diese Abläufe mit angepassten Schrittkombinationen und sicheren Beinstellungen. Nach einer Art des Schattenboxens wurden die angesagten Kombinationen hundertfach ausgeführt, bevor sie mit häufig wechselnden Partnern ihr praktisches Zusammenspiel fanden. Für dieses ausgesprochen anspruchsvolle und sehr inspirierende Training, welches von tausenden Kiais (Kampfschreie) begleitet wurde, gab es den zweiten wohlverdienten Eintrag auf der Stempelkarte.
Wer nun etwas essen oder trinken wollte, musste den Berg herab- und rechtzeitig wieder heraufsteigen um pünktlich zur nächsten Stunde in der Halle zu stehen.
Sensei Thomas Schulze (7. Dan) begann das 3. Training dieses ersten Tages mit Fauststößen im hohen, schulterbreiten Stand und wies auf die Bedeutung der von den Füßen ausgehenden Dynamik hin. Waren es zunächst nur Einzeltechniken, folgten dem Doppel-, Dreifach-, Vierfach- und Fünffachstöße im Sekundentakt. Ergänzt wurde diese Aufgabe mit dem überwinden einer großen Distanz, eines der Hauptmerkmale des Shotokan bzw. JKA-Karate! Die hierzu angewandten, oftmals sehr langen Schritte, erfordern massiven Druck aus den Beinen, dynamische Hüftarbeit und geschickte Schwerpunkverlagerung! Diese komplexen Stellungs- und Schrittfolgen mit Vielfachstößen sollten innerhalb einer Sekunde ausgeführt werden.
Geht nicht? Geht doch! Man muss nur richtig, richtig Gas geben, auch bei 34°C!
Im Folgenden übten wir diese Angriffsmethode an vier gleichmäßig, um uns herum platzierten Partnern mit Wendungen. Jeder hatte zwei Runden auszuführen, dann wechselte der oder die innere Akteur/in. Zusammengefasst bedeutete das für jeden: acht Ausfallschritte, acht Wechselschritte, acht Wendungen und 32 Faustschläge in ca.20 Sekunden für eine Dauer von etwa fünfzehn Minuten! Ihren Abschluss fanden diese beispielhaft kampforientierten 75 Minuten mit zweihundert Tsukis (Faustschläge) im Reiterstand Kiba Dachi und der traditionellen Form des Abgrüßens im Fersensitz Seiza.
Erster Tag, drittes Training, dritter Stempel, alles super!
Mit einer ordentlichen Portion produzierter Glückshormone, ging es danach in die Mensa oder zu den Sitzgelegenheiten im Freien, wo man sich in lockeren Gesprächsrunden über die Trainingsinhalte austauschte und auf den abendlichen Länderkampf Italien gegen Deutschland freute.
Ein festlicher Auftakt, inklusive Nationalhymnen und offizieller Vorstellung aller Instructoren, lud mit großen Erwartungen zum sportlichen Vergleich in den Disziplinen Kata und Kumite ein. Nach einer zu Beginn recht ausgeglichenen Begegnung, gelang es dem deutschen Team im weiteren Verlauf eine respektable Führung aufzubauen und diese bis zuletzt in spannenden Darbietungen zu verteidigen. Mit der abschließenden Pokalübergabe endete dieser in jeder Hinsicht gelungene Wochenauftakt des ersten Tages.
Auch wenn mir das Aufstehen um 5:30 Uhr schwerer fiel als gewohnt, überwog meine Vorfreude auf das Training bei Andreas Klein (5. Dan). Zum ersten Mal war ein Sensei und Stützpunktlehrer aus NRW ins Gasshuku-Instuctorenteam berufen worden. Sein Training im Bunkai (praktische Anwendung) der Kata Kanku Sho (Blick in den Himmel) wurde eindrucksvoll bereichert durch die Einbindung von Techniken aus dem Thaiboxen und dem Judo. „Es gibt keine Technik, die wir nicht auch im Karate hätten, nur üben wir sie zu selten“, so sein Hinweis! Gesagt, getan! In reinster Form der Selbstverteidigung ließen wir Ellenbogen, Handkanten, Knie und Schienbeine in großen Serien an mehreren Partnern zum Einsatz kommen. Auch wenn es hierbei gelegentlich zu blauen Flecken kam, machte dieser Blick über den Tellerrand allen Beteiligten extrem viel Spaß. Der abschließende Applaus unterstrich sehr deutlich, dass Andreas Klein hochverdient ins Instructorteam aufgenommen worden war?
Zweiter Tag, vierter Eintrag!
Den Verdienst weiterer zehn Stempel, möchte ich im Folgenden nur noch als Zusammenfassung beschreiben.
Die Nächte waren kurz, die Glückshormone des jeweiligen Vortages verschwunden und der Körper, spätestens zur Halbzeit am Mittwoch, nur noch ein gefühlter Knochensack! Trotzdem schaffte es die Mehrheit der Teilnehmer sich jeden Morgen neu zu motivieren und rechtzeitig ab 7:00 Uhr in der Trainingshalle zu stehen. So ist es gedacht, soll es sein! Denn bevor man andere besiegen kann, muss man sich zunächst selbst besiegen - immer und immer wieder! In unserem Fall hieß das: dreizehnmal fallen - vierzehnmal aufstehen, womit die eingangs erwähnte, mentale und physische „Berg- und Talfahrt“ gemeint war! Also besser nicht über Gründe nachdenken, die mich vom Training abhalten, sondern einfach im „Hier und Jetzt“ alles geben. Dopamin, Serotonin wie Endorphin auftanken und erneut durchstarten.
Exakt dieser Haltung bedurfte es im Champion-Training mit Igarashi Sensei, den letzten fünfundsiebzig Minuten dieses Gasshukus. Gefordert wurde das gesamte Kata-Programm des Shotokan Karate – 27 Katas insgesamt! Auf Kommando, nicht nur schnell und stark, sondern äußerst schnell und stark mit charismatischer Ausstrahlung. Wie das seinerseits auszusehen hatte, demonstrierte er auf sensationelle Art und Weise. Pure Power in Reinform! In den Genuss seiner Vorführungen kamen wir allerdings nur zu Korrekturzwecken während unserer ca. 1215 Kata-Techniken in fünfzig Minuten. Die verbliebenen restlichen fünfundzwanzig Minuten wollten noch gefüllt werden aber wie? Ganz einfach typisch japanisch: Reiterstellung Kiba Dachi und jeder der verbliebenen 110 Karateka zählt zehn gerade Fauststöße, also 1.100, natürlich äußerst schnell und stark - Was sonst!
Fünf Tage, vierzehn Trainingseinheiten und unzählige Herausforderungen später, nahmen wir zwar keine Medaillen mit nach Hause, waren anstelle dieser jedoch äußerst stolz und mehr als zufrieden mit unserer vollen Stempelkarte.
Die schier letzten Energiereserven dienten der Abschlussparty dieses überragenden Gasshukus am Abend, auf der bis spät in die Nacht ausgelassen getanzt und gefeiert wurde.
Ein großes Lob geht an den Veranstalter, den Ausrichter und alle Instructoren, die als Team, hinsichtlich der Trainingsinhalte mit einer Stimme sprachen und somit dieses Gasshuku zu einem hochkarätigen Sportevent machten.
Zudem gilt meine besondere Anerkennung meinen Mitstreiter/innen des Shotokan Karate Wesel e.V. Funda Kunberger, Michaela Matberg, Kira Block, Jamila Sichalla und Thomas Weinbrenner – die diese Reise durch das Karate-Universum mit allen Höhen und Tiefen gemeinsam mit mir erlebten und niemals aufgaben. Respekt, eine tolles Team!
Wer die ersten Schritte des Karate auf beschaulichere Weise erlernen möchte, ist jederzeit in unserer familiären Gemeinschaft herzlich willkommen. Werden auch Sie ein Mitglied des weltweiten Netzwerkes der JKA.
Infos unter: www.karate-wesel.de
Autor:Michael Jarchau aus Wesel |
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