Arbeitsunfall und Berufsgenossenschaft (Reportage)
Kleine Odyssee entlang der Arztpraxen-Inselchen im Ozean des niederrheinischen Gesundheitswesens
"Sie brauchen einen D-Arzt!" Dieser Satz war mir in jeder Hinsicht neu. Nichtsdestotrotz war er ziemlich bedeutungsschwanger! Das erfuhr ich recht ausführlich in den fünf Stunden, nachdem ich ihn gehört hatte.
Was ist passiert? An einem ansonsten kuscheligen Freitagmittag will ich das Weseler Pressehaus verlassen, um ins Homeoffice zu wechseln. Bedauerlicherweise entgeht mir der hölzerne Türkeil, der zwischen der letzten Treppenstufe und der Eingangstür liegt. Der Sturz des Nullkommaeinstonners in Kurzform: rechter Fuß tritt auf Keil. Keil ruscht weg, Körper hinterher, linkes Bein bleibt stehen, was dem selbseitigen Kniegelenk gar nicht gefällt. Es begehrt auf und meint, ich müsse mich erstens zügig abholen lassen und zweitens die linke Haxe in eine akzeptable Ruhestellung bringen.
Privater Abholdienst
Als mein holdes Weib 'ne halbe Stunde später mit dem "Krankenwagen" vorfährt, ahne ich noch nicht, was mich am Montagvormittag erwartet. Ansonsten hätte ich frühmorgens wohl ein Bütterken mehr verspachtelt. Aber eins nach dem anderen ...
Dies noch vorab: Ich renne nicht für jedes Zipperlein zum Arzt. Obwohl meine Frau mir diesmal genau das rät, hoffe ich trotz fieser Belastungsschmerzen auf Besserung. Die tritt übers Wochenende nicht ein, deshalb peile ich für Montag den Arztbesuch an. So, liebe Leser/innen, jetzt kommt der lustige Teil der Geschichte!
Montag, 7.25 Uhr. Meiner morgendlichen Freude über die fast leere Orthopädenpraxis in Hamminkeln folgt auf dem Fuße die Ernüchterung: Die durchaus empathische Maskierte an der Empfangstheke spricht den ersten Satz dieses Artikels (siehe oben) und schickt mich zu einem bekannten Kollegen ihres Chefs nach Wesel. Der sei Durchgangsarzt. Ich höre den Begriff zum ersten Mal und muss akzeptieren, dass nur eben solche D-Praxen die erforderliche Lizenz besitzen, um Arbeitsunfall-Patienten zu behandeln.
Schwierige Parkplatzsuche
Noch immer bester Hoffnung auf baldige Abhilfe, starte ich die Kurzreise in die Nachbarstadt. Mir ist unwohl hinterm Wagensteuer, schließlich puckert es ordentlich mitten im Kuppelbein. Aber was soll ich tun? Da muss schließlich ein Fachmann draufschauen! Im einsetzenden Nieselregen suche ich einen Parkplatz in der Nähe des Ärztehauses und humple einige Hundert Meter zur Praxis.
7.50 Uhr. Spärliches Licht und vier oder fünf angestellte junge Frauen empfangen mich; eine von ihnen meint beflissen: "Der Doktor ist krank und kommt frühestens Mittwoch zurück!" Hm - so'n Pech, denke ich und frage sie, wohin ich mich wenden könne? Die aufgeregte Blondine empfiehlt mir das Haus der Gesundheit in Wesel-City und nennt auch einen Arzt-Namen. Ich humple zurück zum Auto. In der Altstadt finde ich eine Viertelstunde später einen Parkplatz in der Tiefgarage unterm Großen Markt. Leider wieder eine gutes Stück entfernt vom Zielort.
Im Ärztehaus ist das Licht gedimmt, hinterm Tresen sitzt eine einsame Uniformierte und legt just in diesem Moment den Telefonhörer aus der Hand. Meinem Ansinnen begegnet sie mit dem Hinweis, der Doktor sei heute nicht hier, sie sage gerade alle Termine ab. "Da müssen Sie wohl Ihren Hausarzt aufsuchen!", meint sie. "Aber der hat kein Röntgengerät und ist kein Orthopäde, der kann mir doch gar nicht helfen", werfe ich ein. Sie zuckt mit den Schultern und wiederholt genervten Blickes ihren letzten Satz (siehe oben). Inzwischen geht's auf 9 Uhr, ich zahle die Parkgebühren und steuere meinen Wagen durch die wettergraue Weseler Innenstadt zurück ins Heimatdorf.
"Milz an Großhirn"
Kennen Sie diese alte Nummer von Otto Waalkes, den verbalen Schlagabtausch zwischen den Organen eines betrunkenen Kneipengastes? "Milz an Großhirn" und so weiter? Jedenfalls hört mein eigenes Hirn gerade das Gejammer des Kniegelenks: "Ich will auf die Couch!" Die Antwort ist eindeutig: "Kleinhirn an Knie: Schnauze, da musst Du jetzt durch!" Ein Lichtblick im späten Morgengrau: Ein Parkplatz direkt vor der Praxis ist frei - wie schön!
Kurz um die Ecke gehumpelt, Gesundheitskärtchen abgeben, ab in den Wartebereich. Nach angemessener Wartezeit sitze ich dem Doc gegenüber. Als der die Schilderung meiner bisherigen Tageserlebnisse hört, schüttelt er den Kopf und murmelt irgendetwas von "unserem desolaten Gesundheitssystem". Dann erklärt er mir, er dürfe mich weder behandeln, noch irgendeine Aussage bezüglich meines physischen Zustandes (natürlich in Bezugs aufs lädierte Knie) treffen. Soweit verständlich.
Anschließend - oh Wunder! - folgt sein Hinweis auf mögliche ansteuerbare D-Ärzte. Ich könne wählen zwischen fünf Stunden Wartezeit im Krankenhaus und Praxis X (Name der Redaktion bekannt) in Voerde. Weil der Mann so zuvorkommend ist, telefonisch vorzutasten, wähle ich Variante B, die Durchgangsarztpraxis in Friedrichsfeld. "In zwanzig Minuten", kündigt der Doc seinem Gegenüber am anderen Ende der Leitung an. Ich wuchte mich mit schlechtem Kraftverkehrsgewissen durch den Regen zurück zum Wagen und hoffe, die anvisierte Fahrtzeit einhalten zu können. Inzwischen isses 9.25 Uhr. Ich bin seit Zweieinviertelstunden unterwegs und verspüre so etwas wie Ärger zwischen meinen Synapsen. Schnauze, Großhirn!
Beim Durchgangsarzt
Mit leichter Verspätung treffe ich am Zielort ein und stehe erstmal draußen in der beachtlichen Warteschlage. Mein Knie puckert fröhlich vor sich hin. Es ist kalt. Als ich das Tresen erreiche, fragt die Dame in Grünweiß nach der Adresse meines Arbeitgebers und der zuständigen Berufsgenossenschaft. Beide Antworten überfordern mich und ich erkläre ihr: "Dafür müsste ich kurz telefonieren." Hätte ich in diesem Moment auch nur geahnt, wie dieses "kurz" endet, wäre ich eventuell lieber zurück nach Hause gefahren ...
Ich humple zurück in den Außenbereich und überlege, wen ich anrufe. Dann gebe ich meiner Frau den Vorzug vor meinem Chef, obwohl ich weiß, dass auch sie gut zu tun hat. Während ich schirmlos nassregne und eiskalte Füße bekomme (keine Ahnung, was sie dem Kleinhirn melden), planen wir die Vorgehensweise. Und an diesem Punkt, Damen und Herren Leser*innen, verschone ich Sie lieber mit weiteren Details des unerfreulichen Austausches.
Zum allgemeinen Verständnis nur so viel: Es dauert rund zwei Stunden, bis ich die erforderlichen Infos eingesammelt habe! Zwischendurch hinke ich alle paar Minuten zurück in mit griesgrämig besetzten Menschen angefüllten Wartebereich der Praxis und wieder zurück ins Freie, um den Stand der Dinge abzufragen und weitere Meldungen á la "Kann noch dauern" einzufahren. Während es draußen immer kälter wird und immer stärker regnet, werden meine beturnschuhten Füße zu feuchten Eisklumpen und auch obenrum macht mich die Witterung nicht gerade glücklich. Irgendwann hat meine Liebste endlich die behandlungsnotwendigen Angaben und macht die Datenbank der Praxis und mich glücklich mit der heißersehnten Info.
My own private D-Day
Ziemlich genau fünf Stunden nach meinem morgendlichen Start in den medizinischen D-Day schickt mich der gottseidank sehr knuffige Herr Doktor in seinen Röntgenraum. Nach dem Blick auf die Aufnahmen diagnostiziert er wenig später: Läsion Innenmeniskus, Kniegelenksdistorsion. Zwei Wochen Ruhe. MRT zwecks weiterer Erkenntnisse. Als ich wieder zuhause bin und mein Bein endlich hochlegen kann, bekomme ich kaum noch mit, was meine Organe einander melden. Ist vielleicht besser so ...
Zirka 13 Uhr. Eines betone ich meiner Frau gegenüber, als sie Zeit für mich findet: Der Durchgangsdoktor und seine Crew haben sich geschmeidig, geduldig und zuvorkommend verhalten - trotz des Daueransturms, live und am Telefon! Manche Patienten dagegen lassen jede Erziehung vermissen, trompeten lauthals ihren Unmut in die Gegend und lästern ab über Wartezeiten und andere Zumutungen. Aber vielleicht haben sie ja auch eine ähnliche Odyssee hinter sich wie ich. Wäre jedenfalls kein Wunder, wenn sich in Dinslaken oder Wesel noch andere Ärzte krankgemeldet haben und der Patientenüberlauf sich nach Voerde orientieren muss.
14 Uhr. Jetzt verstehe ich auch, was mein Hausarzt mit seiner Bemerkung übers Gesundheitssystem andeuten wollte ...
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Reaktion der Kassenärztlichen Vereinigung
Damit interessierte Betroffene keine ähnliche Odyssee wie der Verfasser des Beitrags erleben müssen, sei an dieser Stelle die Reaktion der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein (stellv. Pressesprecher Christopher Schneider) dokumentiert: "Mit Blick auf die erfragte Einordnung ist die Kassenärztliche Vereinigung Nordrhein nicht der richtige Ansprechpartner.
Das System bzw. die Struktur zur Versorgung von Unfällen im Rahmen der Berufsausübung (BG-Fall) wird über die Berufsgenossenschaften bzw. Unfallkassen organisiert, die entsprechend mit sog. „Durchgangsärzten“ (D-Ärzte) für die notwendigen medizinischen Behandlungen kooperieren.
Diese D-Ärzte sind von den Landesverbänden der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV) bestellte Fachärzte für Chirurgie oder Orthopädie mit besonderen Kenntnissen und Erfahrungen auf dem Gebiet der Unfallmedizin. Die jeweiligen Mediziner über diese Funktion freiwillig und zusätzlich zu ihrer ärztlichen Regeltätigkeit in Praxis oder am Krankenhaus aus. Ebenso werden die besonderen med. Qualifikation auf dem Gebiet der Unfallmedizin freiwillig vom Arzt erworben. Die eigenen bzw. „separaten“ Versorgungsstrukturen für BG-Fälle entfallen insofern nicht auf den vertragsärztlichen Bereich für den wir als KV verantwortlichen sind. Ob und wenn ja welche Zahlenvorgaben es für diesen Bereich ggfs. gibt, entzieht sich unserer Kenntnis.
Bitte wenden Sie sich daher mit Ihrer Anfrage an die UK NRW: https://www.unfallkasse-nrw.de/versicherte-und-leistungen/versicherte/des-landes.html
Diese bietet über Ihre Website übrigens auch die Suche nach einem D-Arzt vor Ort an: https://lviweb.dguv.de/faces/adf.task-flow?VerzeichnisTyp=D&adf.tfDoc=%2FWEB-INF%2Fpartner-task-flow.xml&adf.tfId=partner-task-flow
Autor:Dirk Bohlen aus Hamminkeln |
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