Nennt mich Nerd, nennt mich Lauch, das Betriebssytem verrät es auch
Erlebnisbericht Ubuntu

Ein Ladekreis auf der Ubuntu Oberfläche

Wenn Sie diesen Text nicht nur lesen, sondern auch hören möchten, können Sie ihn unter timothykampmann.de/audio/Ubuntu.mp3 herunterladen [Rechtsklick->Speichern unter] und während eines Strick-Kurses in einem Funkloch ins Trommelfell einwirken lassen.

Wie Alles anfing

Ich habe da einen Kumpel, der 12 Jahre jünger ist als ich, und das merkt man primär an drei Sachen: er sagt "lol" als Ausdruck seiner Verblüffung, er nennt meine akkurate Beschriftung von Notizzetteln "Rentnerschrift" und vor allem ist er so sehr digital native, dass er mit seinem PC Sachen macht, für die er als rothaarige Frau im Mittelalter verbrannt worden wäre. (Sorry, liebe Medieval-Fans und Mittelaltermärktebummler, aber das war 'ne beschissene Zeit damals, Hafergrütze hin oder her. Sad but true) Zum Glück muss ich seine Verbrennung heute nicht mehr fürchten. Aber die Angst, dass er mal ein tränenlachendes Emoji in einem NSA-Server hinterlässt — die ist latent immer da. Auf alle Fälle stehe ich meist neben ihm leicht zurückgeblieben und ehrfürchtig da… und gucke nur tatenlos zu, wie er in irgendwelchen Systemabläufen rumfuckelt und Operationen am offenen Quellcode vornimmt.

Jetzt hat er sich Linux als Betriebssystem angeschafft. Ubuntu, um genauer zu sein. Wäre der Name nicht schon vergeben, könnte man Affenbrotbaumschnapps Ubuntu Blanc nennen. Ich bin nicht sicher, ob es eine beginnende Midlife-Crisis ist, oder einfach nur Lust auf was Neues war, aber ich wollte jetzt auch Linux. Mehr denn je.

Microsoft ist nicht schlecht. Mein erstes Computer-Erlebnis war auf dem Schoß einer Sekretärin, die mir mit 4 Jahren zeigte, dass man Schriftfarben ändern konnte. Reine Zauberei. Das zweite Mal war in der ersten Klasse: Paint. Paint! Ich sage es wie eine Formel zur Beschwörung einer besseren Welt. "Bunt statt braun" ist heute ein Motto von mir, damals galt das für das Sprühwerkzeug in Paint. Ein Pseudo-Graffiti, das je nach Tastendruckdauer aus immer größer werdenden Flecken von Pixeln bestand. Mein Gott, Paint. Dass ich heute weiß, das der hexagonale RGB-Farbcode von Oxidrot #260000 ist, fing mit Paint an.

Aber nun ist es anders. Die Office-Suite von Microsoft habe ich schon vor Jahren gelöscht — der Funktionsumfang von Libre-Office hat mich mehr überzeugt. Als Browser habe ich Opera für mich entdeckt. FileZilla, VLC, OBS, Audacity… Meine Programme wurden mit der Zeit immer weniger windowig. Und dann las ich, das Linux viel sicherer ist. Und dass es schneller läuft. Und und und.

Eine Sache jedoch hat mich von diesem Linux immer zurückgehalten: wenn ich wirklich auf Linux zurückgreife, gibt es kein Zurück mehr — dann war die Metamorphose zum Nerd perfekt. Ich habe es immer gemerkt, wenn Menschen in meinem Umfeld den Eindruck erweckten, in platinenhaftem Technikenthusiasmus und Logikfetischismus zu denken: dann waren das nette Nerds. Das waren die, die nur Licht aus dem Monitor-Solarium kannten und die nur dann was mit Parties zu tun hatten, wenn auf einer Party das W-Lan ausgefallen war und sie um Hilfe gebeten wurden. Die hatten alle Linux. Einer von denen hatte ganze Welteroberungsphatasien, die essentiell auf Linux-Systemen aufgebaut waren. Ich mochte die Nerds immer, aber die Schublade fürchtete ich.
Sche*ß auf die Schublade. Ich hab Bock auf was Neues!

Protokoll eines Betriebssystemwechels

Sonntag, 26.01.20; 00:30 Uhr
Soeben eine ISO-DVD mit Ubuntu gebrannt. Noch einen Kaffee gemacht. Wenn der Windows-Laptop wüsste, was er da gerade ausgeworfen hat — seine eigene Vernichtung — verstünde er, warum die Leute bei Fridays For Future auf die Straße gehen. Niemand will seinem eigenen Untergang 'nen Proteinriegel ausgeben.

Sonntag, 26.01.20; 00:59 Uhr
DVD eingelegt. Laufwerk zuckt und hört sich an, wie ein DJ, der sich selber scratchen wollte und dabei verunglückt ist und nun Stephen Hawkings Rollstuhl aufträgt.

Sonntag, 26.01.20; 1:13 Uhr
Ich kann Deutsch als Sprache, Tastatur und Tastaturbelegung auswählen. Bitte eine Runde Vaterlandsliebe für Ä, Ö und Ü. Mutter Erde wird mit scharfem ß geschrieben, Baby.

Sonntag, 26.01.20; 1:14 Uhr
Werde gefragt, ob ich W-Lan aktivieren möchte. Siehe Party-Anekdote: nein.

Sonntag, 26.01.20; 1:16 Uhr
Werde gefragt, ob ich Programme von anderen Stellen beziehen können möchte. Äh, ja? Ich bin vieles, aber kein Purist. Gebt mir die volle Breitseite Software!

Sonntag, 26.01.20; 1:17 Uhr
Ein Fenster fragt mich, ob ich Windows überschreiben möchte. Ich gehe in mich, finde nur Gespanntheit und Müdesein vor, gehe wieder aus mich und entscheide mich bewusst… "lass' es überschreiben, Linux. Lass es uns gemeinsam tun. Ich tippe, du löschst."

Sonntag, 26.01.20; 1:23 Uhr
Ich lösche Windows wirklich.

Sonntag, 26.01.20; 1:25 Uhr
Muss ein Passwort eingeben. Entscheide mich für den Namen des ersten Haustieres meiner Mutter: qMw;&0}X.

Sonntag, 26.01.20; 1:26 Uhr
Die Installation startet. Zum Zeitvertreib lese ich Linux-Witze.

Kennen Sie den?

Kollege 1:
"Also, ich habe Antiviren-Software, die vier mal am Tag aktualisiert wird, die Profi-Version einer Personal Firewall, Trojanerwächter, ich surfe nur mit Firefox in einem eingeschränkten Benutzerprofil, und eine Hardware-Firewall habe ich auch noch davor hängen! Und du???"

Kollege 2:
"Ich hab Linux."

Oder den:

Linux-User zu seinem Chef: «Mach mir ein Sandwich!»
Chef: «Warum das denn Bitte? Ich bin doch nicht Ihr Sklave.»
Linux-User: «SUDO mach mir ein Sandwich.» ***
…Ich habe genug Vorinformationen, um ihn sehr witzig zu finden ;)

Sonntag, 26.01.20; 1:31 Uhr
Fertig!

Sonntag, 26.01.20; 1:31 Uhr
Nein, doch nicht, Bildschirm hat sich in den Ruhemodus verfrachtet.

Sonntag, 26.01.20; 1:37 Uhr
Fertig! Diesmal wirklich!

Sonntag, 26.01.20; 3:40 Uhr
Sehe mich um. Moment. Falsche Uhrzeit. Wo stellt man die um?

Sonntag, 26.01.20; 1:59 Uhr
Uhr eingestellt. Weiß nicht mehr, wo, aber finde ich bei Bedarf bestimmt wieder. Bin müde wie Sau. Aber zufrieden. Was? Solitaire? Wieso ist hier Solitaire drauf? Kein Mensch braucht Solitaire. Als ob am Flughafen einer zusammenbricht und alle rufen: "Hilfe, ist hier ein Solitaire, wir brauchen einen Solitaire!". Habe Solitaire gelöscht. Es ging schnell und es spürte keinen Schmerz. Weil es ein Programm ist. Verstehen Sie?
… Wenn ich so müde bin, sinkt die Humor-Qualitätskurve unter Normal Null.

Sonntag, 26.01.20; 2:20 Uhr
Die Benutzung, das Design. Die Symbole, die… Es fühlt sich irgendwie an, wie wenn mein geliebtes Android und mein bewährtes Windows miteinander eine Nacht unter Sternenhimmel verbracht (und sie Apples OS dabei beobachtet und spontan mitgemacht) hätte. Krass.
Setze Kopfhörer auf, höre Jon Hopkins' sphärische Klänge.

Sonntag, 26.01.20; 2:50 Uhr
Ich muss echt für jede winzigste Programm-Installation aus dem Ubuntu Open-Source-Store mein Passwort eingeben!

Aber dafür ist das echt sicher. Bei so einem Sicherheitskonzept kriege ich eher die Corona-Grippe, als dass mein PC sich ein Virus einfängt.

Sonntag, 26.01.20; 2:55 Uhr
Shit! Der USB-Stick wird nicht erkannt! Kein Stick geht! Keine Foto-SD-Karte! Nein! Linux, du kompatiblitätsscheuer Bastard!

Sonntag, 26.01.20; 2:56 Uhr
Okay. Bastard nehme ich zurück. Das Ding braucht einen Befehl, um exfat-formatierte Speicher zu interpretieren. Kommandozeile, erster Versuch. Tippe als Befehl "sudo apt-get install exfat-fuse exfat-utils" ein. Zeilen rasseln vorbei. Zu müde zum Mitlesen. Stecke Stick wieder rein. Ja. Es funktioniert. Ich liebe Linux.

Sonntag, 26.01.20; 9:48 Uhr
Ich wache mit einem geschlängelten Abdruck des Handy-Ladekabels auf meiner rechten Wange auf, von der Schläfe bis zum Kinn. Die Furche ist so tief, dass ich mein Gesicht als Austragungsort für die Bob-WM 2025 beantragen werde.

Bis dahin lebe ich mich in Linux ein.

Autor:

Timothy Kampmann aus Wesel

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