Warum ein Weihnachtsbummel weder im Pott noch im Münsterland angenehm sein muss

Eigentlich wollte ich mich ruhig verhalten. Ausruhen, entspannen, abschalten. Nicht mit der „ImWeihnachtsurlaubbleibtdieKisteaus“-Regel brechen. Ich hatte es dem freundlichen Engelchen auf der rechten Schulter fest versprochen.

Aber neulich meldete sich das Teufelchen von der linken Schulter. „Schreib' was, Du Lusche!“, fauchte es mich an. Und was soll ich sagen? Ich mag Teufelchen halt lieber als Engelchen – und deshalb schon ich die hehren Vorsätze beiseite und schrieb. Aber ich warne Sie: Diese Zeilen sind nicht das, was Sie erwarten! Sollten Sie auf Harmonie stehen, lesen Sie’s lieber nicht!

Kapitel 1 – In der Essener City

Es begab sich, dass unser Erstgeborener zu einem Assessment-Center in der Thyssen-Krupp-Zentrale geladen war – morgens um 8.30 Uhr. Die grottenschlechten ÖPNV-Verbindungen leisteten der Planung einigen Vorschub. Eine Viertelstunde vorher setzte ich das Prinzchen also vor dem Essener Testbunker ab, um mich alsdann auf den Weg in die City zu machen. Am Rande sei verraten, dass ich die Pottmetropole aus meiner Studienzeit kenne, so hatte ich ratzfatz einen gebührenfreien Parkplatz gefunden – zumindest bis 10 Uhr.

Städtische Einkaufszonen haben frühmorgens einen besonderen Reiz. Noch sind keine Käufer unterwegs, einige müde Coffeetogotrinker schleppen sich an den Schaufensterfronten entlang. Doch als Erstes entdeckt das staunende Landei die Gescheiterten: Vor der geschlossenen P&C-Pforte liegt ein Obdachloser. Er hat die Nacht bei 3 Grad Celsius im Schlafsack auf einer billigen Luftmatratze verbracht. Vor seiner Lagerstatt liegt eine Kappe für Bettelgeld. Ich gehe nicht so nah heran, dass ich den Inhalt sehen kann.

Zwischen Bahnhof und Grillotheater befindet sich ein U-Bahnzugang. Die Rolltreppe bringt einen alten Mann nach oben: In Lumpen gehüllt, eine Fellmütze mit Ohrenklappen auf dem Kopf, trägt er mehrere große Discountertüten, die fast aus den Nähten platzen. Er schaut auf den Boden, möchte der Welt nicht begegnen, die ihn abgestraft hat. Zwanzig Meter weiter öffnet sich die Glasschiebetür des Servicecenters einer Bank. Drinnen ziehen einige Leute Kontoauszüge, draußen steht ein farbiger, junger Typ und redet mit sich selbst. So laut, dass ich es auf einige Schrittlängen gut verstehe. Wirres Zeug, zwar Hochdeutsch, dennoch unverständlich. Was hat ihn durchknallen lassen? Ich gehe weiter.

9.30 Uhr. Die ersten Geschäfte (nach den gefühlten sieben Kamps-Filialen) öffnen. Von links überholt mich ein Schlacks in Schwarz, dem fast die Schlabberhose von der Hüfte rutscht. Er fragt eine Frau Mitte Vierzig, ob sie ein bisschen Kleingeld für ihn hat. Ich sehe ich abwehrende Geste und stolpere fast über eine alte Roma-Frau, die in einer seltsamen Haltung bettelt: Sie hockt in Hundhaltung auf ihrer Decke und streckt einen kleinen Plastikbecher nach vorne. Niemand wirft etwas hinein.

Zwei ältere Damen mit Goldrandbrillen, skiurlaubsbraunen Teint und wahrscheinlich sündhaft teuren Mänteln schauen verächtlich auf die Szene hinab. Dann bekommt die Alte doch noch etwas: Ein Araber nähert sich ihr schnell und legt ihr Geld in den Becher, fasst sie an der Schulter und sagt ein paar Worte. Ob er ein Flüchtling ist?
Eigentlich wollte ich ein paar Weihnachtsgeschenke für meine Lieben besorgen (eine neue Jeans für mich selber habe ich mir bereits gegönnt). Doch mir ist die Lust am Shopping vergangen.

Meine adventliche Motivation reicht gerade noch für den Kauf eines Paares Kuschelpantinen in einem dreistöckigen Modehaus, von dem mir mein Erstgeborener in rund zwei Stunden sagen wird, dass es bekannt ist für Giftstoffe in seiner Warenpalette. Wen wundert’s, bei diesen Dumpingpreisen?! Tja, aber die Pantinen hab ich gekauft. Was meine Frau wohl dazu sagen wird, dass ich sie vergifte?

Einkaufsbummel sind nicht meins – das merke ich einmal mehr und lasse mich auf der Außenbestuhlung eines Cafés am Kennedyplatz nieder. Die Sonne schickt mir und dem Paar am Nebentisch wärmende Strahlen. Ich trinke den geschmacksarmen, leidlich heißen Kakao für 2,80 Euro und mache mich eine Viertelstunde später auf, um meinen Thyssen-Prüfling abzuholen.

Unterm Strich war’s ganz nett in meiner alten Uni-Stadt. Aber der Anblick der vielen von der Gesellschaft Aussortierten bleibt hängen. Ich bin froh, als Prinzchen zu mir in den Wagen steigt und mir von seinen Testgesprächen erzählt.

Kapitel 2 – Bummeln in der Kreisstadt

Ewig grüßt das Murmeltier: Irgendwie zieht’s mich jedes Jahr kurz vor Weihnachten nach Borken. Wahrscheinlich, weil ich dort zwei Jahre lang gearbeitet habe, Anfang der Neunziger Jahre. Nettes Städtchen, wenn auch geschäftemäßig weit weg vom Weseler oder Dinslakener Level. Egal, zwei Stunden Bummel sind immer drin!

Ob ich mit diesem Lockangebot in der Jugendabteilung des Bekleidungshauses in der Shoppingpassage gut bedient bin, scheint mir zumindest fraglich. Doch ich rede mir ein: 50 Euro für ein qualitativ hochwertiges Hemd und den dazu passenden Pullover sind a) nicht zu viel und b) als Geschenk für unseren Zweitgeborenen gut investiert. Wie wohl die Gescheiterten in Essen darüber denken?

Plötzlich fällt mir eine Statistik ein, die ich zum Beginn der Adventszeit in der Zeitung las: Die Deutschen geben im Schnitt 250 Euro für Weihnachtsgeschenke aus. Der Betrag erscheint mir eher gering. Kostet dieses beknackte Smartphone, das die Werbung als Gipfel allen Glücks anpreist, nicht schon fast viermal so viel?! Okay, ich selber habe deutlich weniger als 250 Euro für meine Lieben ausgegeben. Aber was schenken die mir und dem Rest der Familie? Auf welche Summe kommen wir alle zusammen?

Sorry, aber solche Fragen stelle ich mir jedes Jahr. Und das schreibe ich nicht, um selbstgerecht zu klingen, es steckt irgendwie drin. Es nagt an meinem Gewissen – vielleicht auch, weil ich weder dem verwahrlosten Tütenträger, noch der Roma-Frau oder dem Bettelschlacks etwas gegeben habe. Immerhin: Wäre meine Frau dabei gewesen, sie hätte jedem einen Euro zugesteckt, so wie der Araber!

Wie auch immer, ich bleibe nicht lange in der Einkaufs-Mall. Erleichtert und genervt zugleich stelle ich fest, dass überall unerträgliche Weihnachtslieder durch den Lautsprecher rieseln. Das ist fast noch schlimmer als die Karnevalsmucke, mit der große Häuser ihre Kunden in den Tagen vor Rosenmontag über die Belastungsklinge springen lassen. „Rudolf Rednose“ wird unerbittlich vor den Techno-Schlitten gespannt. Und ich dachte, „Last Christmas“ wäre der totale Niedergang westlicher Adventskultur. Wanderer, kommst Du nach Borken …..

Der sonnige Vormittag endet mit einer weiteren Ernüchterung: Die Frau an der Imbissbude verlangt 5 Euro für eine Currywurst mit Pommes, ohne Majo! Für Momente wähne ich mich am Düsseldorfer Flughafen, wo derart unverschämte Preise Usus sind. Dann freue ich mich, dass ich den Einkaufsbummel abbrechen kann und ignoriere die Tatsache, dass meine mit 2 Euro bezahlte Parkzeit noch zwei Stunden länger gereicht hätte. Wenigstens hat die Wurst geschmeckt.

Sie fragen sich, warum ich Ihnen derart penetrant diese ganzen Geldbeträge nenne?
Das führt uns zu …

Kapitel 3 - die Moral von der Geschicht‘ …

Vielleicht haben Sie gemerkt, dass ich ursprünglich eine amüsante Abhandlung schreiben wollte. Doch schon bald nach den ersten Sätzen in Kapitel 1 wusste ich: Das wird nix! Dieser krasse Gegensatz zwischen Zufriedenheit und Verzweiflung, zwischen Shopping und Betteln, zwischen Licht und Schatten beeindruckt mich jedes Jahr von Neuem. Und zwar meistens in der Weihnachtszeit.

Essen und Borken zu vergleichen, macht keinen Sinn. Natürlich gibt’s im Pott mehr Menschen, die am Existenzminimum knabbern, als in einem westmünsterländischen Mittelzentrum. Aber genau an diesem Punkt fällt auf: Auch in Borken gibt’s Bedürftige. Man muss nur genauer hinsehen, um sie zu erkennen. Sie tragen große Plastiktüten von KiK und Aldi und drücken sich oft unsicheren Blickes vorbei an den Menschen, die hochwertige Papiertragetaschen schlenkern, in denen sich Gaastra-, Boss- und Hilfiger-Klamotten stapeln. Oder noch teureres Zeug.

Aber in Borken werden Bettler nicht geduldet, schätze ich. Höchstens, wenn sie ein Instrument spielen und die Passanten mit musikalischen Wohlklängen erfreuen. Ganz ähnlich wie in Wesel. Ob es in „meiner“ Stadt viele Geschäftsleute geschehen lassen würden, dass ein „Penner“ vor ihrem Schaufenster übernachtet? Wohl eher nicht. Und plötzlich denke ich mit seltsamen Gefühlen an den Vormittag in Essen zurück.
Dort wurden sie Gescheiterten nicht verscheucht. Keine Stadtwacht, die den Clochard aus der Passage hinaus komplimentiert. Jedenfalls nicht zwischen Neun und Zwölf. Niemand machte einen auffällig großen Bogen um die Roma-Bettlerin.

Schon gut - ich weiß, es ist naiv, diesen Eindrücken einen positiven Beigeschmack unterzujubeln. Nichts an Armut ist positiv! Und doch nahm das Landei in mir wahr, dass die Armen in einer großen Stadt (zumindest augenscheinlich) ein paar Gelegenheiten mehr bekommen, um sich durch zu hangeln. Vielleicht rede ich mir das auch nur ein und trete so auf den Mainstream-Pfad, auf dem so viele Spießbürger nur allzu gerne wandeln: dem Weg des Verdrängens und der Ignoranz.

Geht’s Ihnen nicht auch so? Man will die Welt manchmal ein kleines bisschen besser machen, will den Menschen helfen, Missstände abschalten. Und wie endet das Vorhaben? Im Nirwana.

Da fällt mir ein, Einen habe ich in der Aufzählung weiter oben vergessen: den Mann, der aus feuchtem Sand einen Hund formt. In Essen sah ich ihn morgens um Zehn, unweit der Limbecker Straße. Und in Wesel hab ich ihn früher auch schon gesehen. Formt immer denselben Hund, der Typ. Ist relativ schnell damit fertig, etwa nach einer Stunde. Dann setzt er sich stundenlang neben seinen Sandhund und wartet darauf, dass Passanten seine Kunst mit milden Gaben belohnen. Wo er wohl mehr bekommt, in Essen oder in Wesel?

Wenn ich ihn das nächste Mal sehe, kriegt er einen Euro von mir, obwohl mir sein Hund nicht gefällt. Vielleicht kann ich mein schlechtes Gewissen beruhigen mit dieser kleinen Spende. Vielleicht kann sich der Mann dann zu Ostern eine neue Jeans kaufen.

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Autor:

Dirk Bohlen aus Hamminkeln

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