Leserbrief einer Mutter zweier autistischer Kinder
Von Inklusion, Förderung und (mangelnder) Empathie: Kritik an der Bönnighardt-Schule

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Aus Rheinberg schreibt eine Leserin diesen Leserbrief:

"Ich bin Mutter zweier autistischer Jungen. Und wenn ich eins in den vergangenen Jahren gelernt habe, dann dies: Alle sprechen über Inklusion, aber in der Praxis hakt es an vielen Stellen.

Es geht um meinen jüngeren Sohn Thomas (17). Er leidet an frühkindlichem Autismus, hinzu kommt eine geistige Behinderung. Bis zum Frühjahr hat Thomas die Europaschule in Rheinberg besucht. Eine inklusive Schule, wie es immer heißt. In seiner Klasse kam aber kein Sonderpädagoge mehr zum Einsatz. Die Schule bot mir an, den Jungen dort zu lassen, aber er könnte nicht mehr gesondert gefördert werden. Also entschied ich mich nach langen Überlegungen, ihn auf die Bönninghardt-Schule zu schicken.

Ich habe deshalb lange überlegt, weil Thomas bereits die erste Klasse vor zehn Jahren auf der Bönninghardt-Schule besucht hatte und ich mit Konzept und Art der Förderung nicht zufrieden war. Kommentar meines damals siebenjährigen Sohnes: „Mama, das ist doch eine Spielschule.“

Aber da es jetzt mit der Schulleitung klare Absprachen gegeben hat, war ich bereit, es mit der Schule für das letzte Jahr von Thomas’ Schulpflicht noch einmal zu versuchen. Inzwischen bin ich sehr enttäuscht von der Schule. Förderung findet dort meines Erachtens kaum statt. Das, was die Schüler dort lernen, wird in Ordnern dokumentiert. Ordner, die die Schule mir ganz offensichtlich ungern zur Verfügung stellt, obwohl auch das abgesprochen war. Der Ordner, den ich kürzlich einsehen konnte, enthielt zwei Blätter mit Zaubertricks und einen Text zum Abschreiben. Das ist für mich pure Beschäftigungstherapie und keine Förderung. In der ersten und zweiten Grundschulklasse musste Thomas Texte abschreiben, dort ist das sinnvoll, aber jetzt bestimmt nicht mehr.

Bei den Gesprächen vor Thomas’ Wechsel zur Bönninghardtschule haben sowohl mein Sohn als auch ich unsere Wünsche deutlich formuliert. Thomas möchte nicht in einer Werkstatt für Behinderte arbeiten, sondern Koch oder Tierpfleger werden. Der Schulleiter, Herr Petrikowski, versicherte uns, dass er gute Lehrer habe, vor allem in der Berufsvorbereitungsstufe. Es gebe viele integrative Firmen, zu denen die Schule gute Kontakte pflege.
Thomas würde gut gefördert werden, so dass der Start in den Wunschberuf kein Problem sei. Angesichts des Lehrplanes bezweifle ich stark, dass von Förderung überhaupt die Rede sein kann. Zur Verdeutlichung füge ich einen Plan bei. Thomas selbst kritisiert den Unterrichtsstoff, den er bereits in der Grundschule absolviert hat. Ich glaube nicht, dass die Lehrer an der Schule versagen, vielleicht ist es ein Kommunikationsproblem zwischen Schulleitung und Lehrern.

Die frühere Schulamtsdirektorin Gisela Lücke-Deckert war eine Vorkämpferin für die Inklusion in Schulen. Leider vermisse ich bei ihrem Nachfolger Jürgen Dorn diese Begeisterung. Ein Beispiel: Bei einem Gespräch mit dem Bönninghardt-Schulleiter und Herrn Dorn äußerte Letzterer: Er verstehe nicht, warum ich darauf bestehe, dass mein Sohn im Tausender-Bereich rechnen solle. Solche Fähigkeiten brauche er nicht in einer Werkstatt.
Vor mehr als zehn Jahren hat die Bundesrepublik die UN-Behindertenrechtskonvention unterzeichnet - gestatten Sie mir, dass mich im Jahr 2018 eine solche Denkweise eines leitenden Beamten ziemlich erschreckt. Aber wenn mein Sohn Koch werden will, muss er Gramm, Kilo- und Litergrößen umrechnen können - dafür braucht er auch Rechenfähigkeiten.

Bei dieser nicht existenten Art von Förderung langweilt sich mein Sohn natürlich und verweigert sich häufig. Was er gelernt hat in den vergangenen Wochen: Gewalt und Schimpfwörter. Auch hier hätte ich mehr Einfühlungsvermögen der Schule erwartet: Thomas muss zum ersten Mal seit Jahren ohne Integrationshelfer auskommen, er braucht natürlich eine besondere Unterstützung. Das sollte an einer Förderschule eigentlich selbstverständlich sein.

Um es noch einmal klarzustellen: Ich bin keine hysterische Helikopter-Mutter, die Unmögliches verlangt. Ich verlange einfach nur die bestmögliche Förderung für Kinder mit Behinderung. Aus eigener Anschauung weiß ich, wie sich Kinder mit Förderung entwickeln können. Vor vielen Jahren hat mir der Vorsitzende eines Vereins, der sich angeblich um Menschen mit Behinderung kümmern sollte, gesagt, ich sollte das Geld für alle Förderangebote sparen und lieber in die Karibik fliegen. Bei meinem Kindern würde sich der Einsatz nicht lohnen. In der Karibik war ich immer noch nicht. Aber ich habe zwei Söhne, die dank Förderung sehr weit gekommen sind.

Dafür habe ich viel und oft kämpfen müssen. Deshalb lasse ich mich auch jetzt nicht mundtot machen und einschüchtern, auch nicht mit der unterschwelligen Androhung: „Dann fliegt ihr Kind eben von der Schule und dann sehen Sie, was Sie haben.“

Ich würde mich freuen, wenn Sie das Thema aufgreifen würden. Es geht nicht nur um meinen Sohn, es geht um alle Kinder, die eine Behinderung haben." 

Ulrike Albrecht
Königsberger Straße
47495 Rheinberg

Autor:

Lokalkompass Kreis Wesel aus Wesel

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