Offener Brief an den NRW-MP
Laschet, lass es!

Wesel, 14.04.Covid-19Zeit

Sehr geehrter Herr Laschet,
zunächst möchte ich meinen unbedingten Vorsatz unterstreichen, so sachlich und nüchtern wie irgend möglich in diesen unären Dialog zu treten. Falls mir das über Strecken des Textes nicht gelingen sollte, möchte ich Sie bitten, auch die andere Wange hin zu halten (Christen-Insiderwitz).

Zunächst möchte ich mich bei Ihnen bedanken, dass Sie sich im Dezember so schnell und eindeutig zum Umweltsau-Video des WDR positioniert haben. "Jung gegen Alt zu instrumentalisieren ist nicht akzeptabel.", sagten Sie da und ratifizierten damit Ihre Qualifikation als Kunstkritiker mit moralapostolischem Eifer. Damals trugen Sie noch keinen Nasenmundschutz, bei dem die Nase raus guckte. Die guten, alten Zeiten. Jetzt vergeht kein Moment, in dem man einen Gedanken ohne Corona denken kann. "In Zeiten von Corona" ist die Antwort auf die Frage, was man macht, was man denkt, was man plant und wie es einem geht.

Ich muss kurz einatmen und ausholen…
Michael Mronz ist Eventmanager. 90% aller Eventmanager — das belegen sämtliche von mir persönlich durchgeführten Studien — sind menschgewordenes Heroin. Wenn man mit Eventmanagern eine stille Bibliothek besucht, um zweidreivier Seiten aus einem Buch über Mineralogie zu kopieren, tanzen am Ende eine Westlife-Coverband auf hoch gestapelten Büchern, während Hostessen in weißen Kleidern mit buchstabenförmigen Knöpfen Drinks servieren, die auf Namen hören wie »Sex-on-the-book«, »Cuba-Library« und »George R. R. Martini«.

Sie, Herr Laschet, kennen den Herrn Mronz ja persönlich. März 2019 haben Sie gemeinsam mit ihm, wie eine Art Zeugen-Jehovas-Duo, an der Tür des IOCs geklingelt und gefragt: "Haben Sie heute schon über die Olympischen Spiele in North Rhine-Westphalia 2032 nachgedacht? Wir würden Ihnen gern eine Infobroschüre hier lassen, vielleicht haben Sie ja Interesse?".
(Ich weiß aktuell leider nicht mehr, was daraus geworden ist.)

Und nun ist Alles so anders. Jetzt ist Corona. Jetzt ist Heinsberg. Und mit Heinsberg kam das Projekt »Heinsberg Protokolle«: Eine Auswertung der Infektionsketten und Krankheitsverläufe. Aber nicht in ganz Heinsberg, sondern nur in Gangelt. Gangelt ist so beschaulich, da sagen sich Fuchs und Hase nicht nur gute Nacht, sondern können sie auch weitgehend unbehelligt miteinander verbringen und hinterher eine rauchen. Gangelt ist ein infastrukturelles Mikroversum.

Kommunikativ begleitet werden die Heinsberg Protokolle von der Agentur StoryMachine, bei der Michael Mronz zum dreieinigen Gespann der Führung gehört. Warum? Was für einen Zweck erfüllen ein Eventmanager und zwei ehemalige Redaktionsleiter von Bild (Kai Diekmann) und Stern.de (Philipp Jessen) in einer Pandemie, wenn man sie beauftragt, eine Studie medial zu inszenieren?
Die personelle Besetzung der Agentur Storymachine garantiert kommunikative Schlagkraft. (Michael, Kai, Philipp: wehe, der Satz taucht irgendwo auf einer Zitatkachel auf!) Wir brauchen mehr Intensivbetten und besser bezahltes Pflegepersonal und keine schlagkräftige Agentur — "in diesen Zeiten"!

Kai Diekmann wurde vom Berliner Landgericht auf immer mit dem Bannspruch belegt: "Er hat sich mit Wissen und Wollen in das Geschäft der Persönlichkeitsrechtsverletzungen begeben". Gemeint war damit sein journalistisches Verhalten.
Diekmann ist der selbst gekrönte König der Storyteller von dem, was dem Kleinhirn schmeichelt. Ungeachtet von seinen marktwirtschaftlichen Fähigkeiten, die ich ihm weißgott nicht absprechen will: er hat nichts in der Kommunikation über die Pandemie zu suchen.

Die ersten Ergebnisse der Heinsberg Protokolle sind nun — erwartungsgemäß — von Ihnen (oder StoryMachine) in eine Richtung interpretiert worden, in der Gefahr zu einem kalkulierbarem Gefährchen wurde: mit einer angegebenen Letalität von Corona, die nur ein Fünftel so hoch ist, als von der durchaus ernst zu nehmenden Johns-Hopkins University errechnet wurde. Eine Pandemie, die mal eben zehntausenden Menschen das Leben gekostet hat, entpuppt sich dank dessen als 80% zu klein geratener Scheinriese. Die Glaubwürdigkeit liegt auf Fliesenboden und hat arge Heulkrämpfe, während ihr Schaum unter die Zunge quillt.

Sie und StoryMachine wollen nun also ganz NRW auf Heinsberg herunterbrechen? Ich dachte bis vor zwei Monaten, Heinsberg würde mit z geschrieben! "Apolda ist nicht Berlin-Kreuzberg", sagte vor kurzem Ihr Kollege Merz. Heinzberg ist nicht Düsseldorf! Verzeihung. Heinsberg. Es ist unverantwortlich, Landesentscheidungen auf Dorfebene zu fällen.
Die Daten, die in Heinsberg generiert werden, und von StoryMachine mit etwas aufgeladen werden, was sich Blendgas nennt, können nicht unsere derzeitige Situation reflektieren. Aus diesen Daten allein lässt sich auch keine Handlungsweisung für das Land NRW gewinnen.

Ich will auch gar kein Storytelling in Sachen Corona. Ich will keine Werber, die im Gewand von Journalisten auftreten. Ich will Wissenschaft. Ich will kluge, selbstkritische, hinterfragende, abwägende Wissenschaft. Ich will anstrengende, ehrliche, unbeschönigte Erkenntnis. Und diese Erkenntnis will ich nicht von einer Kommunikationsagentur vorverdaut bekommen, die alles mit ihrem hedonistischen Speichel aufgeweicht und im Pansen des Storytellings vorgegärt hat — ich möchte diese Erkenntnis in Nüchternheit (und staubtrocken dazu) vorgelegt bekommen. Und zwar von Leuten, die nicht von Privatunternehmen gesponsert werden. Ich will Forscherinnen und Forscher hinter dieser Sache wissen, die den Menschen die Chance geben, Realismus in seiner Glanzlosigkeit zu spüren.

Hatten Hypatia, Galilei, Curie und Einstein Kommunikationsagenturen hinter ihrer Arbeit?
Wenn Wissenschaft nicht aussagekräftig ist, legt ein dazu gestellter Sprecher ihr nur etwas in den Mund. Wenn Wissenschaft nicht aussagekräftig genug ist, um für sich selbst zu sprechen, ist sie dazu verdammt, von einer externen Entität in einen »Zweck« umgestaltet zu werden. Und Zwecke sind verdammt leicht usurpierbar, das wollte ich nur gesagt haben.

Herr Laschet, ich muss Ihnen das Problem dahinter mithilfe des Johannes-Prologs verdeutlichen:
[1] Am Anfang war die Information und die Information war bei der Macht und die Information war Macht.
[…]
[14] Und die Information ist Erzählung geworden und hat in unseren Nachrichten gewohnt und wir haben ihre Kraft geschaut, […]
Sprich: Information inkarniert langfristig immer in Narrativen — das ist menschlicher Nomalzustand. Aber das tut sie gefälligst durch die betroffenen Menschen selbst; durch kollektive Erinnerung, durch Erlebnisse, durch Schäden und Veränderungen und Verbesserungen, die aus ihr, der Information, hervorgehen und die Teil ihrer Erzählung werden (vergl. Dawkins Meme-Theorie). Aber ein synthetisches Narrativ von taktischen und politischen Gründen drauf legen und zur Formgebung behämmern, in zweckdienliche Form schlagen — das ist nicht der richtige Weg.

Philipp Jessen sagte dem Magazin Meedia gegenüber in einem Interview von 2019: "Wir (...) sind immer Herr unseres Narrativs und lassen Geschichten nicht von anderen erzählen."

Welche Geschichte soll also erzählt werden? Sie, Herr Laschet, positionieren sich nun als Retter der Normalität. Normalität ist dummerweise gerade aus. Normalität ist nicht auf Lager.

Warum sperren wir uns alle (so gut es geht) ein? Um Menschenleben zu schützen, zu bewahren! Jedes Opfer, dass wir die letzten Wochen durch Verzicht und Zurückhaltung erbracht haben, war dazu bestimmt, die Würde des Menschen vor Siechtum zu bewahren.

Wir sind gesellschaftlich endlich mal so weit, Einschnitte ins Drastischste zu akzeptieren, um einer größeren Sache zu dienen, die Menschen rettet. Als Deutschland zuletzt so geschlossen agiert hat, kam weniger Erfreuliches heraus. Da hat die UFA nicht Deutschland sucht den Superstar produziert, sondern Kriegspropaganda. Wie die Zeiten sich ändern.

Natürlich fehlt auch mir die Normalität. Denn normalerweise würde ich um diese Jahreszeit dem Sonnenuntergang entgegen spazieren und dabei einem Block Marzipan-Rohmasse einen Bissen mit derartiger Gier raus reißen, als hätte ich es gerade bei der Jagt erlegt. [Don't judge me!]
Aber: Normalität ist dummerweise gerade aus. Normalität ist nicht auf Lager, wie ich schon sagte.

"Jung gegen Alt zu instrumentalisieren ist nicht akzeptabel."
Ihnen ist bewusst, dass, wenn Sie mit der von StoryMachine beschönigten Erzählung die Normalität künstlich zur Wiederauferstehung treiben, doch Alt gegen Jung instrumentalisiert werden wird? Die Jungen, die die volkswirtschaftlichen Dellen wieder aufblähen sollen und damit zum Infektionsrisiko der Alten werden?
Meine Oma ist genauso Umweltsau wie ich, wenn ich mir Dr Pepper in der Einwegflasche reinziehe. Das ist nicht das Problem. Aber ihr Sterberisiko an Corona ist zehnmal höher als das Ihres Instagram-Sprösslings Joe. Das »meine« ich nicht persönlich, das »sage« ich Ihnen persönlich.

Wenn wir nicht Acht geben, opfern wir nicht unsere Freiheit, sondern unsere Alten, Schwachen und Kranken. Wir hätten uns die Normalität zurückgekauft und mit deren Leben abbezahlt.
"Jung gegen Alt zu instrumentalisieren ist nicht akzeptabel."... Oder gelten diese Worte nur bei der Besänftigung eines von rechten Pöbelmaschinen hochgepushten GEZ-Skandälchens?

Was wird den Menschen jetzt also erzählt? Ist es nur die Erzählung eines Ministerpräsidenten, der sich profilieren möchte? Ich frage ehrlich.

Nichts schadet der Kultur des Zusammenhalts aktuell mehr, als Machtmenschen mit Selbsterfüllungsdrang.

"Friede sei mit Dir". Diekmann weiß Bescheid.

Autor:

Timothy Kampmann aus Wesel

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