Grundgesetz to go am Zeitschriften-Kiosk
Die Würde des Menschen ist anfassbar

Das Grundgesetz (GG), diese Basis aller deutschen Gesetzbücher, hat kein Imageproblem. Aber man könnte es als Problem sehen, dass man es schlicht kaum imaginieren kann. In seiner blanken, inmateriellen Existenz aus schnödem Text ist es nur über einen Geist fassbar, der sich ihm still und konzentriert widmet.
Nur ist heute nichts mehr still und konzentriert. Die Aufmerksamkeitsökonomie ist ein darwinistisch ausgeführter Wettbewerb um jeden noch so kleinen Funken Widmung.
In einer Zeit des Ästhetisierungsdrucks und perfekter Bildwelten, wo Visualität zum Inbegriff des Verstehens geworden ist, hat es die Bleiwüste mit Paragraphensymbol-Kakteen schwer.

Denn meist erstickt alles Musische unter nüchtern-funktionalem Regelwerk.
Die »Tugenden der Kreativität«, also Sensibilität, (Selbst)Reflexion und Selbstkritik, Schaffensdrang und Ideenreichtum haben selten Schnittmengen mit Gesetzen, die als abgeschlossene Handlungsanweisungen auf ihren reinen Inhalt reduziert sind.
Diesen Mangel will das »Grundgesetz als Magazin«, herausgegeben von Oliver Wurm, begegnen und in Angriff nehmen, will das Argument der intuitiven Unzugänglichkeit von der Liste des politischen Desinteresses streichen. Das macht es zum demokratischen Flickzeug für zerschlissene, abgenutzte Augen. Es will ein Grundgesetz zum anfassen und erleben sein. Es flüstert: sei dein eigener Verfassungsschützer.

Das Cover konfrontiert: es zitiert den bekanntesten Satz der deutschen Verfassung "Die Würde des Menschen ist unantastbar" und zeigt durch die Vorwegnahme dieser Formel an: da kommt nicht mehr. Dieser eine Satz bringt 75% des Wissens, was man vom Grundgesetz in sich trägt, auf die Waage. Das Magazin offenbart dadurch schon auf den ersten Blick charmant-seitenhiebig, dass da noch viel mehr drin steht, viel mehr drin steckt — und das dieses Mehr emotional und(!) intellektuell erobert werden will.

Es ist eine bewusstseinserweiternde Lektüre. Eine, die aus ihrer historischen Überzeitlichkeit herausgezogen wurde und nun in dieser Form als grafische Vergegenwärtigung unserer politischen Identität dient.
Immer wieder prangen Sätze in cleaner, massiver Schrift auf farbigen Grund, zentriert und zäh zu lesen. Sie wollen den routinierten Lesefluss des flinken Überschauens blockieren und stattdessen stückweise in ihrer Bedeutung erfasst werden, als Prüfziffer der Aufmerksamkeit. Sie nehmen Zeit in Anspruch, um innerhalb dieser Zeit von ihrer Relevanz zu überzeugen. Niemand kommt an den Grundrechten vorbei, ohne bereits auf dem Papier ihre Wucht und Wichtigkeit zu bemerken. Das mag dem einen oder anderen als plumper typografischer Trick erscheinen, als think-bigger-Plattitüde, doch es ist ein unmittelbares Werkzeug und seine Wirkkraft ist nicht zu unterschätzen. Worte wollen wirken.

Dementsprechend erscheinen die derart hervorgehobenen Textpassagen aus dem Grundgesetz wie eine Legierung aus Sinnspruch und Hinweisschild und Gedenktafel.
Es sind Mahnworte, die um ihre Bedeutungsschwere der Entstehungsgeschichte wissen und aus dem Ringen hervorgegangen sind, das vorzeitige Monstrum der Unmenschlichkeit zu überwinden. Das Grundgesetz ist und bleibt das Anliegen und Bemühen, der Gerechtigkeit Lebensräume zu erschließen und zu sichern. Das kommuniziert das GG als Magazin.

Die einzigen Dinge, die ein wenig fremdkörperlich… nicht direkt ins Auge springen, aber dezent um Aufmerksamkeit winken, sind die Alexander-Geerst-Fixation (als Thema übernimmt er eine Gastrollenfunktion) sowie die vier Seiten mit Danksagung für die Projektunterstützung, die aussehen wie eine x-beliebige Sponsorenwand. Darunter die Marke HD+, die deutsche Automatenwirtschaft und das Miniatur Wunderland Hamburg, sowie der Koordinationsrat der Muslime und die Werbeagentur Kolle Rebbe. Was jetzt noch fehlen würde, wäre Axel Schulz mit Fackelmannmütze. Deutschland ist bunt, fällt einem nur dazu ein.
(Und ganz nebenbei ist so ein Projekt wirklich ein Vertrauensbeweis in das Medium Print.)

Im Ganzen betrachtet ist das Grundgesetz als Magazin eine Inspirationsquelle der politischen Bildung. Es könnte ein Schritt in eine Richtung sein, in der sich Grundrechte nicht der sinnlichen Wahrnehmung entziehen oder im Abstrakten bleiben — vielleicht ist es sogar ein Impulsgeber. …Wenn in der Bärengruppe die am Halstuch reiskekskrümelgezierte Betreuerin mit Kurzhaarfrisur den Kindern anweist: "heute malen wir das Recht auf freie Entfaltung eurer Persönlichkeit, soweit ihr nicht die Rechte anderer verletzt". Das wär' doch was.

”Typographie strukturiert Information und bereitet sie nach ihrem Inhalt auf: nach sachlich-logischen und mit ästhetisch-emotionalen Gesichtspunkten. […]

Wissen und Können führen zur Erkenntnis.
Erkenntnis führt zu Haltung und Stil.
Haltung und Stil befähigen zur Überzeugung.“
(Kurt Weidemann, deutscher Grafikdesigner)

Man muss das Grundgesetz nicht sinnlich aufbereitet und typografisch betreut lesen. Und man muss sich nicht den Luxus gönnen, es sich (zeitgeistig interpretiert) in offensiver Formsprache präsentieren zu lassen. Aber man sollte sich sehr wohl diesen Luxus gönnen und wenigstens mal reinschauen.

Vor allem aber sollte man es wertschätzen. Wertschätzen aufgrund seiner Aufmachung. Und erst Recht wegen seines Inhalts.

Autor:

Timothy Kampmann aus Wesel

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