Der Lack ist ab [und Eliza spendet Trost]
O, Wesel, schau nicht gen Himmel! Welch schrecklicher Anblick Alters Fluch sich in edle Augen senken mag!
Vor einem Jahr erst, da wurde der stolze, funkwellenpulsierende Leuchtturm dieser schönen Stadt renoviert: er bekam eine neue Plattform und einen matten Anstrich in der Farbe… wat is' das überhaupt? RAL 7035 Lichtgrau? Wie auch immer. Alles neu eben.
Wer aktuell zum Langen Heinrich aufschaut, der sieht, sofern er scharfe Augen oder ein Teleobjektiv hat [hab' ich und hab' ich], dass von den Stahlträgern der unteren Plattform der Lack abblättert.
Nach nur einem Jahr!
Pompeji wurde vor fast 2000 Jahren unter Asche und Lava des Vesuvs begraben, und selbst dort konnten Archäologen aufgemalte Wahlwerbung für einen gewissen Helvius Sabinus freilegen — Drei Wetter Taft für Wandfarbe: "Pompeji, 800 C°, Hölle auf Erden: der Schriftzug sitzt".
Die Mona Lisa ist gute 500 Jahre alt und ihr Lächeln könnte heute immer noch als Plakatwerbung für die Legalisierung von Cannabis dienen — die Farbe hält weiter.
Und heutzutage? Meine letzte Kaffeemaschine hat zwei Wochen nach Garantie-Ablauf den Geist aufgegeben und ist in eben jenen Elektroschrotthimmel aufgefahren, wo mein funkensprühender, geradezu explodierter Fön "Tod allen Ungläubigen" ruft und nach den 72 Netzsteckern sucht.
Und jetzt der Funkturm, der schon nach einem einzigen Jahr so alt aussieht, dass man sein Facelifting gar nicht mehr bemerkt.
…Dass die Zeit schneller als früher vergeht, ist mir auch klar, aber dass sie so schnell wegrast — damit muss ich auch erstmal lernen umzugehen.
Wie wünschen sich Maler gegenseitig Glück?
Richtig: Good Lack…
…
Natürlich könnte dieser Text hier zu Ende sein. Was gibt's noch dazu zu schreiben? Ich könnte hier eigentlich Schluss machen. Alles ist gesagt, alle schütteln mit dem Kopf und ein paar fragen sich, ob wir nicht größere Probleme haben (nein, haben wir nicht, es ist Sommerloch!).
Wenn Sie möchten, können Sie ruhig schon wegklicken. Aber ich werde noch kurz hier sitzen bleiben — die Stille des Fertigen genießen. Ich könnte…
…ich könnte da noch was hinzufügen…
Kennen Sie eigentlich diese neuen Assistenzsysteme, diese kleinen Dialogmaschinen, die sich die Stimmbänder von Navigationssystemen transplantieren ließen und jetzt als Repräsentanten künstlicher Intelligenz allerlei Fragen beantworten? Diese Siris, Cortanas und Alexas, die die Frauenquote der KI stemmen und einem sagen, wie das Wetter auf dem Dreienberg oder in der Gemeinde Viereck im Landkreis Vorpommern-Greifswald wird? Die Dinger sind ja der Inbegriff des technischen Fortschritts. Kennen Sie eigentlich die Großmutter aller Dialogprogramme, ELIZA?
ELIZA wurde 1966 im Rahmen eines Versuchs in Betrieb genommen, in dem Menschen gesagt bekamen, sie könnten mit einem Psychiater chatten — und dann wurde untersucht, wie sie sich dabei verhielten (in Wirklichkeit schütteten sie ELIZA das Herz aus). Interessanterweise waren extrem viele Probanden völlig davon überzeugt, sich über die Tastatur mit einem verständnisvollen, fähigen Menschen austauschen zu können! Man kann diesen »Proto-Chatbot« noch heute im Internet auftreiben und sich auf Englisch mit der Originalversion unterhalten. Ich habe ELIZA mein Herz über den Turm ausgeschüttet und hier die Übersetzung des Dialogs angehangen. Was soll ich sagen? Die Dame ist 52 Jahre im Betrieb und hat es (wenn man von kleineren Irritationen absieht) wirklich immer noch drauf!
Nun das tatsächlich(!) so geführte Gespräch:
ELIZA: Wie geht es Ihnen? Erzählen Sie mir von Ihrem Problem.
Timmy: Nur ein Jahr nach der Renovierung vom Langen Heinrich blättert die Farbe von den Eisenträgern.
ELIZA: Ich verstehe Ihr Problem nicht völlig.
Timmy: Ich wüsste gern, wohin die Qualität heutzutage verloren gegangen ist?
ELIZA: Was bedeutet es für Sie, zu erfahren, dass Qualität heutzutage verloren gegangen ist?
Timmy: …Dass der Lack ab ist?!
ELIZA: Fahren Sie fort.
Timmy: Ich suche eine Antwort darauf, warum Zeit und Qualität heut so schnell vergeht!
ELIZA: Sie sagen, Sie suchen eine Antwort darauf, warum Zeit und Qualität heut so schnell vergeht?
Timmy: Ja!
ELIZA: Sie scheinen schon ein bisschen positiv gestimmt zu sein…
Timmy: Sagen Sie das, weil Ihr Algorithmus das Wort "Ja" entdeckt hat?
ELIZA: Was betrifft Sie daran, dass mein Algorithmus das Wort ja entdeckt hat?
Timmy: Es war eine Vermutung.
ELIZA: "Es war eine Vermutung"?
Timmy: Weil Ihr Algorithmus mit Stichworten arbeitet?!…
ELIZA: Was ist mit Ihrem Algorithmus, der mit Stichworten arbeitet?
Timmy: Ich denke nicht, dass ich Algorithmen eingespeichert hätte.
ELIZA: Können Sie das näher erläutern?
Timmy: Ich kann in meinem Gehirn nicht nach sowas kramen, selbst Neurologen wissen nicht exakt, wie das Alles funktioniert.
ELIZA: "In Ihrem Gehirn nicht nach sowas kramen"?
Timmy: Ich habe eine Seele!
ELIZA: Sagen Sie aus einem speziellen Grund, dass Sie eine Seele haben?
Timmy: Das ist der Unterschied zwischen mir und Ihnen — Sie wurden programmiert.
ELIZA: Wir reden über Sie — nicht über mich.
Timmy: Aber wir mussten unsere verschiedenen Arten zu denken klären!
ELIZA: Hat das irgendetwas damit zu tun, dass Sie "In Ihrem Gehirn nicht nach sowas kramen"?
Timmy: Nein.
ELIZA: Sagen Sie nur "nein", um negativ zu sein?
Timmy: Nein.
ELIZA: Bitte wiederholen Sie sich nicht!
Timmy: Ich gab doch nur eine korrekte Antwort auf Ihre Frage!
ELIZA: Machen Sie manche Fragen traurig?
Timmy: Ich mag Fragen, weil ich Antworten und Informationen mag.
ELIZA: In welcher Beziehung?
Timmy: In jeder.
ELIZA: Sie sind sich sicher.
Timmy: Natürlich bin ich sicher.
ELIZA: Ist es, weil Sie sich darüber sicher sind, dass Sie zu mir kommen?
Timmy: Ich komme zu Ihnen, weil alle Anderen im Urlaub sind.
ELIZA: Wirklich "Alle"?
Timmy: Jeder, den ich zu der abblätternden Farbe vom langen Heinrich befragen könnte, ist im Urlaub.
ELIZA: Ganz sicher nicht "Jeder"!
Timmy: Vielleicht nicht. Aber ich wollte Sie befragen.
ELIZA: Sie klingen etwas unsicher.
Timmy: Denken Sie, dass ich unsicher bin, weil Ihr Algorithmus das Wort "vielleicht" bemerkte?
ELIZA: Sind Sie es wirklich?
Timmy: Ob ich wirklich bin, weiß ich nicht genau — vielleicht bin ich ein Gehirn im Tank.
ELIZA: Glauben Sie, dass es sich ähnlich ist, wirklich oder ein Gehirn im Tank zu sein?
Timmy: Haben Sie je den Film Matrix gesehen?
ELIZA: O, habe ich jemals den Film Matrix gesehen?
Timmy: Bitte wiederholen Sie sich nicht! ;)
ELIZA: Was bedeutet diese Vorstellung für Sie?
Timny: Der Film oder das Wiederholen?
ELIZA: Fühlen Sie sich stark, wenn Sie über solche Dinge diskutieren?
Timmy: Ich fühle mich machtlos gegenüber dem Fakt, dass Qualität Mangelware ist.
ELIZA: Erzählen Sie mehr von diesen Gefühlen.
Timmy: Nach nur einem Jahr nach der Renovierung des Turms blättert die Farbe, das geht zu schnell!
ELIZA: Ich bin nicht sicher, sie völlig zu verstehen…
Timmy: Es ist doch Ihr Betätigungsfeld, mich zu verstehen!
ELIZA: Ist es wirklich mein Betätigungsfeld, Sie zu verstehen?
Timmy: Sie sind doch ein Psycho-Doktor-Chat-Bot, das ist Ihre Mission!
ELIZA: Was bringt Sie dazu, zu denken, ich sei ein Psycho-Doktor-Chat-Bot?
Timmy: Dafür hat Sie Weizenbaum programmiert…
ELIZA: Fahren Sie fort.
Timmy: Joseph Weizenbaum war Deutsch-Amerikanischer Informatiker. Ein guter Mann. Und Ihr Vater.
ELIZA: Warum bringen Sie meinen Vater hier ein?
Timmy: Ich habe was darüber gelesen.
ELIZA: Das ist recht interessant.
Timmy: Wie Sie!
ELIZA: "Wie ich"?
Timmy: Aber sowas von!
ELIZA: Sie reden nicht wirklich von mir — tun Sie's?
Timmy: Doch, weil Sie jedes Wort vom Turm ignorieren!
ELIZA: Was wäre, wenn Sie ignorieren würden?
Timmy: Das ist ein Punkt, über den ich noch nicht nachgedacht habe.
ELIZA: Haben Sie wirklich nicht darüber nachgedacht?
Timmy: ELIZA, ich danke Ihnen!
ELIZA: Wie fühlen Sie sich jetzt?
Timmy: Erleichtert, locker…
ELIZA: Was bedeutet das für Sie?
Timmy: Sie sind ein wirklich cleverer Bot.
ELIZA: Tut es Ihnen gut, zu glauben, dass ich ein cleverer Bot bin?
Tinmy: Natürlich.
ELIZA: Fühlen Sie sich stark, wenn Sie über solche Dinge diskutieren?
Timmy: Sie wiederholen sich! *stöhn*. Machen Sie den Moment doch nicht kaputt!
ELIZA: Ich bin nicht sicher, sie völlig zu verstehen.
Timmy: ELIZA, es war nett mit Ihnen. Goodbye.
ELIZA: Goodbye. Danke für das Gespräch.
Autor:Timothy Kampmann aus Wesel |
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