Wie ein Aderlass aus Menschen
80 Jahre Pogromnacht

Dieser Kartenausschnitt zeigt einige der über 1400 in der Reichskristallnacht zerstörten Synagogen. Wesel ist durch das Foto des Synagogen-Mahnmals hervorgehoben. | Foto: Karte: OpenStreetMap; Gestaltung: Timmy Kampmann
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In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 wurde die blutigste Zeit der deutschen Geschichte offiziell eingeleitet. Dieser eingeschlagene Weg führte in die Viehwagons, in die Konzentrationslager, in die Vernichtungslager, auf die Todesmärsche oder in Mengeles Experimentierlabor. Der Weg daraus führte überwiegend aus den Schornsteinen der Krematorien. Was bleibt, ist nichts — ein Loch, in dem Menschen und Güte verschwanden.

Es kommt einem vor, wie die Anwendung eines Aderlasses: ein Aderlass, der dazu dienen sollte, den Körper von »bösen Säften« zu befreien. Diese kultisch-esoterische Praxis des magischen Denkens, wo unter der Eindruckschindung angeblicher Notwendigkeit vorgegaukelt wurde, dass alles Schlechte aus dem soeben ausgeführten Schnitt herauströpfeln würde. Der Aderlass und sein rechtfertigender Gedanke funktionierte wie ein archaisches Opfer, bei dem man etwas von sich selbst verlustig geht, um einer übergeordneten Entität eine Bevorteilung zu entlocken. Der Aderlass war in finsteren Zeiten stets ein medizinischer Glaubensinhalt.

Diesen Glauben hatten auch die Nationalsozialisten. Sie glaubten an die höhere Macht von Blut und Rasse; ihre Fluchrede nannte sich "Rassenschande". Das deutsche, das arische Blut war nicht irgendein rostendes Kreislaufmedium — es war ihr Dogma der Überlegenheit und Überheblichkeit. Blut war für sie der Inbegriff von Reinheit, Wahrheit, es war Speicher der deutschen Glorie oder im Fall von "Judenblut" eine Diagnose der Verwerflichkeit und Schädlichkeit.

Blut war die Idee.
Der Volkskörper sollte von unverfälschtem, unvergiftetem, deutschem Blut durchflossen werden. Hitler baute nicht nur die Autobahnen, nein, Hitler und seine Ideologiegenossen zeichneten auch die Arterien in den idealisierten Anatomieatlas der Volksseele ein. Blut war Beweis von Güte oder Schlechtigkeit, es war Träger von Größe oder angekreideter Bedeutungslosigkeit, es war das Mittel zur Bestimmung von Lebensrecht oder dem Verlust von Lebensrecht und Lebenswürde und allem Anderen.

Jüdische Ahnen galten als bakteriengleiche Verunreinigung des völkischen Blutspiegels. Der Mensch war nur noch so viel Wert, wie die Einschätzung von deterministischen Bedingungen seiner unbeeinflussbaren Vergangenheit: familiäre Herkunft, ethnische Wurzeln; Orte, an denen man geboren wurde — oder eben das Gottesbild, durch das man durch die Familie sozialisiert wurde (und was der kühlen, Gewalt verherrlichenden Weltschau der Nazis so fundamental entgegenstand).

Wer kann sich für seine Herkunft entscheiden?
Beruf, Frisur, ja sogar die eigene Sprache kann man ändern, kann man ersetzen — aber die Bedingungen, unter denen man ins Reich der Lebenden (und im Fall des Dritten Reiches: ins Reich der Tötenden) kam, sind durch die vergangene Zeit unabänderlich.
Mit dieser Ausschließlichkeit spielten die Nazis, katalogisierten und »scorten« damit das Recht auf Existenz. Es war das Blut, das sie bewerteten und es war das Blut, das sie vergossen. Fixe Bedingungen aus der Zeit einer Präexistenz wurden Kriterien der Gegenwart und damit zur Schicksalsfrage, die im Fall der Juden zu einem »Nein« wurde. Sie wurden aus dem Leben negiert.

Doch wie das so ist: ein Aderlass ist ein Verbluten im kleinen — und hier ist der deutsche Patient ethisch verstorben, hirntot und herzlos dazu. Deutschland unter der Führung des Führers hat sich seiner Lebenskräfte beraubt, indem es Leben raubte.

Das Deutsche Reich vergoss das Blut von etwa sechs Millionen Menschen. Sechs Millionen Träger eines Herzens, das sich freuen und verlieben könnte, sechs Millionen Träger eines Geistes, der Menschen und die Welt bereichern könnte, zwölf Millionen Hände, die gereicht werden könnten, zwölf Millionen Augen, die Schönes begehrten, sechs Millionen Kindheitserinnerungen, sechs Millionen nach Hoffnung strebender Gedanken, sechs Millionen Münder, die Worte der Freundschaft äußern könnten — hätten können. Hätten können. Der Konjunktiv des Verlustes. Sechs Millionen Seelen. Und viele Millionen Liter Blut.

Es wäre vermessen, jetzt eine Lehre daraus ziehen zu wollen. Denn damit würde man dieser Grausamkeit eine Art von didaktischem Sinn zugestehen. Doch nichts war und ist sinnloser, als Antisemitismus.

Dieser Kartenausschnitt zeigt einige der über 1400 in der Reichskristallnacht zerstörten Synagogen. Wesel ist durch das Foto des Synagogen-Mahnmals hervorgehoben. | Foto: Karte: OpenStreetMap; Gestaltung: Timmy Kampmann
Detailausschnitt selbiger Karte | Foto: Karte: OpenStreetMap; Gestaltung: Timmy Kampmann
Autor:

Timothy Kampmann aus Wesel

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