Lebenslange Angstgefühle und die Konsequenzen - Interview mit einer Betroffenen
Imke: "... ein Bestandteil seelischer Erkrankungen ist oftmals ein Gefühl der Alternativlosigkeit."
Ein normales Leben? Hatte Imke Schüring nie - schon als kleines Kind nicht. Die meiste Zeit hing ein großer schwarzer Schatten über ihr, den sie jahrelang nicht einschätzen konnte. Ist es Schüchternheit oder Unvermögen? Ist es Unsicherheit oder gar Menschenfeindlichkeit?
Was Imke besonders machte, war eine unerklärliche emotionale Lethargie. Die heute 48-Jährige schleppt seit ihrer Kindheit Angstgefühle mit sich herum. Die haben ihr ziemlich viel versaut. Sie hadert mit ihrer Familie, mit den Kindern in ihrer Umgebung. Sie hadert mit ihrem Geist und mit ihrem Körper, traute sich selber lange Zeit kaum etwas zu. Doch das ist heute anders - dank gezielter Behandlungen.
Bei Lokalkompass schreibt sich Imke eine Last von der Seele. Und mit diesem Interview macht sie die Sache rund - damit unsere Leser sie verstehen lernen.
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Das Interview
dibo: Hallo Imke. Bitte nenne nur jeweils drei Adjektive als Antwort: Wie warst du früher und wie bist du heute?
Imke: Früher - misstrauisch, introvertiert, sozial unbeholfen. Heute - weniger misstrauisch, weniger introvertiert, sozial etwas „beholfener“
dibo: Was ist dein seelisches Problem?
Imke: Ich leide an einer generalisierten Angststörung. Das bedeutet, viele Situationen und Orte lösen bei mir Panikattacken aus. Als es 1991 anfing habe ich einige Monate das Haus nicht mehr verlassen. Erst viele Jahre später mit Hilfe von Konfrontationstherapie und Anti-Depressiva hat sich meine Situation entscheidend verbessert.
dibo: Du hast dich entschlossen, deine Gedanken bei Lokalkompass ganz genau aufzuschreiben. Warum?
Imke: Ich möchte Menschen ansprechen, die an sich selbst ähnliche Symptome festgestellt haben und nicht wissen, wie sie damit umgehen sollen. Diese Leute möchte ich ermutigen, sich therapeutische Hilfe zu suchen, die Angst vor dem Wort „Psychiater“ nehmen. Denn für viele Menschen ist die Psychiatrie immer noch ein Tabuthema. Man schämt sich, wenn man da hin geht. Dabei ist das doch ein anerkannter Beruf, der viele Jahre Studium erfordert.
dibo: Hast Du überhaupt schöne Erinnerungen an deine Kindheit und Jugend – und an deine Familie?
Imke: Meine Kindheit war sehr behütet, materiell haben meine Brüder und ich nichts vermisst. Aber 1977 legte sich eine große Trauer über uns alle, denn da haben wir unseren geliebten Vater verloren, er starb an Krebs. Mutter musste von nun an allein durchs Leben gehen und obwohl sie getan hat, was sie konnte, war sie oft überfordert und tief traurig.
dibo: Du schreibst viel über deine Hilfslosigkeit und Verzweiflung. Konntest du keine effektive therapeutische Hilfe bekommen?
Imke: Ich war viel in Therapie, manche hat geholfen, manche aber auch nicht. Ich habe Vieles probiert und nie aufgegeben! Aber eine seelische Krankheit hat man meist ein Leben lang.
dibo: Gibst Du irgendjemandem die Schuld dafür, wie dein Leben gelaufen ist?
Imke: Mittlerweile nicht mehr. Früher dachte ich meine Mutter wäre schuld, aber „schuld“ würde ja voraussetzen, das sie mir mit Absicht Angst eingejagt hat. Aber sie war auch nur ein Kind ihrer Zeit (vermeintliches Trauma wegen der Flucht aus Ostpreußen).
dibo: Offensichtlich hast Du nicht die besten Erfahrungen mit dem Jobcenter gemacht. Kommentiere das bitte!
Imke: Durch den Wust von Anträgen, Formularen und Vermögensnachweisen zu steigen, ist schon für einen gesunden Menschen nicht leicht. Für einen seelisch Kranken ist es die Hölle. Und dann sind da noch die ständig drohenden Sanktionen, das vergiftet das Klima zwischen Sachbearbeitern und den Hilfesuchenden. Manchmal hat man Glück und gerät an einen Mitarbeiter, der einem nicht jedes Wort im Mund umdreht, aber oft hat man auch Pech. Denn Sanktionen oder Maßnahmen zu verhängen, liegt im Ermessensspielraum des Sachbearbeiters, das ist gesetzlich nicht eindeutig festgelegt, soweit ich weiß.
dibo: Was bringt dich heute schnell aus der Fassung und was lässt dein Herz leuchten?
Imke: Wütend machen mich Ungerechtigkeit und Überheblichkeit. Fröhlich macht mich weißes Papier und ein Stift.
dibo: Was würdest Du rückblickend anders machen, wenn Du könntest?
Imke: Diese Frage schafft mich. Ich hätte nichts anders machen können, denn ein wesentlicher Bestandteil seelischer Erkrankungen ist oftmals ein Gefühl der Alternativlosigkeit.
dibo: Welche Erwartungen hast Du an deine nähere und fernere Zukunft?
Imke: Nähere Zukunft - dass alles friedlich bleibt und Corona bald verschwindet. Fernere Zukunft: Ein Buch schreiben! „Erfahrungsbericht über Angststörung“ oder so und ein wenig Geld damit verdienen ...
dibo: Liebe Imke, vielen Dank für das interessante Gespräch und deine mutigen Antworten.
Und alles Gute (von Herzen).
Imke: Ich habe zu danken!
Über Imke (ein "Steckbrief")
Alter: 48
Wohnort: Wesel
Schule: Mittlere Reife und abgeschlossene Ausbildung zur Bürokauffrau
Hobbys: Schreiben, Fotografieren, Spazieren gehen, Rad fahren
Charakter: direkt, ehrlich, sensibel - "und mein Freund sagt, ich sei manchmal etwas geheimnisvoll; aber eigentlich bemühe ich mich nur stets herauszufinden, was mein Gegenüber grad will"
Vor knapp vier Jahren kürte sie das Communitymanagement zur BürgerReporterin des Monats März 2017.
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Und hier geht's zu ihren Beiträgen ..
Teil 1 - wie alles begann
Teil 2 - meine generalisierte Angststörung
Teil 3 - ein Blick auf die Familie
Teil 4 - Wut
Teil 5a - Wunder der Medizin
Teil 5b - Konfrontationstherapie
Teil 6 - Arbeitslos
Autor:Dirk Bohlen aus Hamminkeln |
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