der ausführliche Rückblick inkl. Filmkritiken!
Mit kleinem Zeiteinsatz auf die große Leinwand

Jurymitglieder: Lars Böhnke, Carla Gottwein, Jan van Gorku; die Präsentatoren der jeweiligen Kategorien: 1. stellvertretende Bürgermeisterin Birgit Nuyken, Reinhard Hoffacker, Nicole Beckord; die Preisträger: Lukas Lemnitzer, Alexander Conrads, Bart Schrijver, Christian Kaufmann, Iván Robles Mendoza, Marijn Liek und Moderator Dave Zabel
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  • Jurymitglieder: Lars Böhnke, Carla Gottwein, Jan van Gorku; die Präsentatoren der jeweiligen Kategorien: 1. stellvertretende Bürgermeisterin Birgit Nuyken, Reinhard Hoffacker, Nicole Beckord; die Preisträger: Lukas Lemnitzer, Alexander Conrads, Bart Schrijver, Christian Kaufmann, Iván Robles Mendoza, Marijn Liek und Moderator Dave Zabel
  • hochgeladen von Timothy Kampmann

Der Leinwandgaffer in mir hat Eindrücke eingesaugt, verstoffwechselt, fermentiert und ihren Energiegehalt in Schreibbewegung umgewandelt. Energie verschwindet ja bekanntlich nicht, sie wechselt nur die Form.

Der Verein Filmkultur am Niederrhein hat zum zweiten Mal den Kinosaal des SCALA Kulturspielhauses, Wesels Kulturwohnzimmer, in Beschlag genommen und kurzerhand zum Weseler Kurzfilmtempel umgerüstet und zum medialen deutsch-niederländischen Kulturgüteraustausch genutzt.

Bereits Freitag Vormittag kamen im Vorfeld der Veranstaltung Schüler der Gymnasien Goch und Andreas-Vesalius sowie der Gesamtschule am Lauerhaus zusammen, um einige niederländischsprachige Produktionen als Premiere zu sichten — für den nativen Umgang mit der niederländischen Fremdsprache, der auch durch die Interviews mit den Filmemachern angeregt wurde. Denn so, wie man sich die Strukturformel von n-Hexan besser merken kann, wenn der Chemielehrer sich damit die Augenbrauen abgeflämmt hat, so prägt sich Sprache eben auch am besten ein, wenn sie im besonderen Kontext erlebbar gemacht wird.

Zur Eröffnungsfeier am Freitag Abend wurde dann auch der von Vielen erwartete Kurzfilm »Der Darsteller« gezeigt, bei dem Matthias Schweighöfer als Statist auftaucht, während der Film im Dokumentarstil einen Berufstatisten porträtiert, der sich selbst in seinen Rollen verliert und in Sachen Work-Life-Balance an der Grenze der kultivierten Identitätslosigkeit zu kratzen scheint.

Auch herausstechend war Lars Böhnke: während sein im letzten Jahr vorgestellter (und prämierter) Film noch anarchozynisch-provokant angelegt war, tritt sein neues Werk »Kamtschatka«, ein technisch perfekter und eindrucksvoll arrangierter Reisebericht, ganz anders auf und beweist breit angelegte Wandlungsfähigkeit. Der Film ist völlig zurecht als National Geographic-Lookalike bezeichnet worden. [Herrlich fand der Schreiber dieser Kritik eine Sequenz, wo zwei Leutchen, gehüllt in Insektenschutzanzügen, steif vor einem kleinen Haus stehen und man unvermittelt an American Gothic erinnert wird und schmunzeln muss (das Gemälde von 1930, nicht die Serie). Da Böhnke in diesem Jahr Jurymitglied ist, lief dieser Film allerdings außerhalb des Wettbewerbs.]

Und dann? Dann wurde der Samstag durchgesuchtet: von 11:30 Uhr bis 19:30 Uhr wurden 26 Filme in den Kategorien Niederlande, Niederrhein und Deutschland vom geneigten Publikum durchgeguckt, es wurde mitgelacht, mitgelitten und mitgefiebert und mitgelesen (Abspänne gehören auch zum Film!) und zwischendrin den Interviews der Filmschaffenden mitgelauscht. Bis zum Abend, der schließlich der Preisverleihung reserviert war.

Das Finale

Gaststar Werner Hansch, Sportmoderator und seines Zeichens sprachklanglich reichlich beschenkter Erzähler, überreichte den diesjährigen Publikumspreis an Marijn Liek, und zwar für den Film »Screwed«, der eine zeitgemäße Hommage an den Stummfilm lieferte: die 7min-Profuktion handelt von einem Date, bei dem an Alles gedacht wird... außer an den verdammten Korkenzieher. Und damit beginnt die urkomische Odyssee des alles-richtig-machen-wollenden armen Tropfs, der in seiner Rolle pantomimisch exquisit um jede Chance hastet, das Utensil zu ergattern — untermalt von astrein ausgeführter, deskriptiver Hintergrundmusik.
Bei einem Festival, das sich seiner Bilingualität (deutsch/niederländisch) rühmt, ist diese Auswahl einer gekonnt sprachlosen Inszenierung durchaus eine erfrischend-aufsässige Publikumsentscheidung.

Darauffolgend verteilte die Jury, bestehend aus Carla Gottwein, Lars Böhnke und Jan van Gorkum, nacheinander die silbernen Kopfweiden-Anstecker an die Produzenten der besten Filme in ihren jeweiligen Kategorien:

»Sardinien«, eine Komödie aus der Kategorie Niederrhein, in der ein Paar über den Stellenwert von Vertrauen stolpert und dadurch die absurde Impulsivität gekränkter Liebe vorführen.

»Valt een man uit de lucht« (dt. Ein Mann fällt vom Himmel) aus der Kategorie Niederlande, in dem so etwas stattfindet wie eine umgekehrte Entrückung: ein zum Tod verdammter Unbekannter fällt unvermittelt vom Himmel auf das Grundstück eines Ehepaares und zwingt zu Vorsätzen, die unterschiedlicher nicht ausfallen könnten: sie will ihn versorgen, er will ihn loswerden und beide verzweifeln an der abgründigen Trostlosigkeit dieser Differenz.

»Sog«, ein Oscar®-nominierter Kurzfilm in der Kategorie Deutschland. Er besticht durch seine verstörende Fremdhaftigkeit und spielt in einer Welt von laut heulenden Fischen (auf toten Bäumen hängend) und schwarzfelligen Zottelmännchen, wobei letztere sich eines Tages aus ihrem Unmut über den Lärm entschließen, Einfluss auf ihre Welt zu nehmen, die aus grauem Land und nacktem Gestein besteht. Und dadurch das Unheil seinen Lauf nimmt. Hier schimmert wohltuend der alte Fabelcharakter durch.

Auch lobende Erwähnungen der Jury gab es:
»Aussichten« ist ein Kammerspiel über zwei Krankenhausbettnachbarn, deren Hoffnungsgefühle verschiedene Reifegrade aufweisen.
Da ist zum einen der frustrierte und missmutige, mit sich selbst beschäftigte Patient und zum anderen sein aufdringlich-freundlicher, geschichtenliebender Zimmergenosse, der ersterem nach und nach eine neue Perspektive der Wahrnehmung eröffnet.
Das ruhig erzählte Stück dient als Beweis dafür, dass überschüssige Freundlichkeit (genau wie sonst der Stress) sehr wohl an die Umwelt abgegeben werden kann und dort weiter wirkt und schafft.

»Hou Vast«, eine niederländische Produktion über die unfreiwilligen Begegnung eines um sein Leben hängenden Fensterputzers und einer Blinddate-bedingt lampenfiebrigem Dame beim Umziehen, bei der Beide zwar eine Glasscheibe (und das Vorhandensein von Boden unter den Füßen) trennt, und bei denen sich doch so etwas wie Vertrauen und Freundschaftlichkeit anbahnt. [Spoiler? Jemand Spoiler gefällig? Nein? Möchte jemand? Da hinten vielleicht? Nein?! ... Okay okay, neuer Absatz und nächster Film.]

»Nö!« aus dem bundesweiten Wettbewerb ist die netteste Durchhalteparole, die in einen Animationsfilm verwandelt werden kann. Dass Mutlosigkeit und Resignation mit zuversichtlicher Dickköpfigkeit begegnet und besiegt werden können, wusste man zwar schon vorher von sehr vielen Kühlschrankmagnetweisheiten — doch mit derart liebevoll aufbereiteter Dramaturgie und grafisch eindrucksvoller Bildkomposition kommt das Ganze noch viel schöner.

Resümee

Gerade Kurzfilme neigen dazu, den Cineasten das in die Hände und Augäpfel zu spielen, was die mündigen und mutigen Zuschauer sehen wollen: Authentizität, Werkidentität, Erlebnisdichte und Perspektivenkonfrontation — sowie ab und zu eine ironische Metaebene und Selbstreferenz an das kurzlebige und doch lang nachwirkende Medium Shortfilm. Es ist Filmkunde und -genuss in Reinkultur und Schnelldurchlauf.
Dabei spielt das Genre gar keine Rolle — es ist die unmittelbare Intensität der Geschichten, die einen in den Bann ziehen und durch die Handlung schleifen. Die Frequenz der Reize ist stets so eng getaktet, wie die Zeit zum nächsten Abspann dauert.

Kurzfilme können auf Kinoklischees pfeifen, sie schreiben ihre eigenen Regeln. Das Unhappy-End ertragen gehört zu ihrer Freiheit dazu wie die Akzeptanz und das Wertschätzen der Tatsache, dass diese Filme viel ehrlicher und persönlicher sein können. Darauf muss man sich einlassen. Das Niederrhein-Filmfestival taugt also auch zur Medienkompetenz-Schulung.

Eine Hollywood-Miniaturlandschaft mit länderverbindenden Ursprungssiegel.

Autor:

Timothy Kampmann aus Wesel

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