Informations-Schatz, wir müssen reden.
Jede Zeit ist etwas ganz Besonderes, etwas mit dem schimmernden Glanz der Einmaligkeit im Auge ihrer Betrachter. Und doch war jede Epoche an ihrem Ende nur eine Aufbruchstimmung für die nächste. Heute ist es nicht anders — oder doch? Das allseits ausgerufene Informationszeitalter jedenfalls mit seiner ultimativen Verfügbarkeit an Wissen gibt sich die Attitüde einer fantastischen Singularität, aber die damit aufkeimende Frage bleibt derzeit unbeantwortet:
Was machen wir in einem Schlaraffenland des Wissens, und wie bewahren wir uns davor, wissensfette Klugsch□□ßer zu werden?
Die gute alte Zeit…
Die Findung einer Erkenntnis war vor Erfindung des Internets eine erkenntnistheoretische Odyssee. Da saß man am Schreibtisch, las in einem Buch etwas… und urplötzlich entstand aus der Druckerschwärze auf Papier ein Fragezeichen aus Neugier im Geist. Fragezeichen haben nicht umsonst die Form von Enterhaken — denn wenn sie massiv sind und einmal eingehakt, bleiben sie im Hirngewebe stecken und man kriegt sie einfach nicht mehr abgeschüttelt — geschweige denn raus gezogen.
Was machen? Man geht ein paar Meter zur Bücherwand, nimmt sich ein Lexikon und blättert und blättert und findet… zu wenig zu dem Thema: ein winziger Absatz; eher ein thematischer Ansatz, der mitnichten den Informationshunger stillt — eher noch den Appetit vergrößert. Dann macht man sich auf, gen Bibliothek, sucht Regale ab und kippt Buchrücken nach Buchrücken aus den Reihen hervor und dann — dann endlich findet man, was man sucht. Und man hat wieder etwas gelernt. (Währenddessen hat sich die Erde gleich ein paar Breitengrade weiter gedreht und der gesuchten Information wurde zwischenzeitig in der ganzen Erwartungsfreude schon ein Teppich ausgerollt und ein Zimmer bestellt, alles zurechtgemacht und feierlich auf den Empfang gewartet.
Sie, die Information, soll es schließlich schön im Kopf haben, wenn sie eintrifft.)
Oder nehmen wir die Zeit, in der es gar kein Wissen gab. Die gab's ja auch mal.
Da musste man erstmal selbst anpacken, selbst forschen — Steine einschmelzen und gucken, was übrigbleibt… vielleicht hatte man dann ein Element entdeckt und konnte es nach seinem Namen benennen. Oder man hat sich die Hand verbrannt.
Henning Brand kochte 1669 übrigens so lang Urin ein (ob es sein eigener war, lässt sich leider nicht mehr ermitteln), bis er die Rückstände unter Luftabschluss verglühen konnte und im Dunkeln leuchtender Phosphor übrig blieb. Eine fabelhafte Entdeckung. WC steht in diesem Fall wahrscheinlich für Wissenschaftliche Chuzpe.
Man konnte andererseits aber auch einfach ausrufen "Ich möchte Wissen und Weisheit erwerben!" und ins Blaue wandern. Wenn man während der Reise weder verhungert ist, noch gefressen wurde, kam man dann viele Jahre später wieder zurück und verkündete stolz: "Ich habe Gott gefunden und er hat mir mitgeteilt, was er von den Menschen will! Bringt mir einen Schreiber, ich diktiere ihm das Gotteswort originalgetreu und Wort für Wort". Manchmal kam so einer auch mit (in unbekannten Sprachen beschriebenen) Goldplatten wieder, die aber niemand sehen durfte, weil die Offenbarungen zu heilig waren. In dem Fall hieß man Joseph Smith und gründete das Mormonentum.
Hatte Joseph Smith wiederum nachtleuchtende Platten mit Phosphorbuchstaben aus Naturprodukten präsentieren können, wär das Teil so richtig durch die Decke gegangen!
Wissen Zweipunktnull.
Heute ist es so einfach — fast schon zu einfach: Smartphone raus: bumm • zack • Bildungsbürgerkonkurrenz. Mit dem fingerverschmierten Touchscreen als Fenster zum unbegrenzten Wissen in der Hand zum Doktor der angewandten Klugsch□□□erei in wenigen Sekunden.
Während man früher geradezu kognitive Pilgerreisen unternehmen musste, um dann ganz weit weg die Kirchturmspitze der Erkenntnis zunächst erahnen, dann erst erblicken zu können, teleportiert man sich jetzt in selfiehafter Oberflächlichkeit auf die Spitze von Wissens-Kathedralen und wieder zurück.
Die informationelle Infrastruktur besteht aus Pfaden goldener Platinen, gesäumt und erhellt von Siliziumkristall-Lüsterleuchtern, die den Weg ins gelobte Land der Erkenntnis weisen. Niemals waren die Bedingungen von Wissenserlangung und Wissensaustausch günstiger, und niemals wurde soviel Wissen ausgetauscht.
Doch manchmal frage ich mich, was das Alles bringt. Das ganze lose Wissen, dass Nacktmulle zum Beispiel keinen Schmerz kennen, weil ihr Körper den Botenstoff »Substanz P« nicht produziert, oder die Kenntnis davon, dass sich Johann Wolfgang von Goethe und Isaac Newton um die richtige Theorie zur Entstehung von Farben zankten (and the winner was Newton)…
Was hilft es beispielsweise, dass ich weiß, dass Stühle, Schreibtische und Regalsysteme bei Ikea nach männlichen Vornamen benannt sind, während Stoffe, Gardinen und Decken weibliche Vornamen tragen. Aber was soll mir das sagen? Dass in Schweden alle Männer ihr gesamtes Leben auf Stühlen sitzen und ihre Ellbogen auf Tische abstützen, auf denen sie mit zu klein geratenen, unlackierten Bleistiften Designstudien für Ikea-Regalsysteme entwerfen? Und dass ihre Frauen den ganzen Tag Stoffe an die Wände tackern und in Katalogen nach schönen Gardinen stöbern, um sich damit abzulenken, damit sie nicht an die Decke gehen, weil ihr Mann das Arbeitszimmer niemals nicht verlässt? Moment, das war ein Denkfehler: »Decken« meint nicht den Deckel eines Zimmers, nicht die Raumdecke, sondern die Stoff(zu)decke. Aha! Schwedische Frauen sollen also nach der Ikea-Ideologie den ganzen Tag unter der Bettdecke für einen Kerl verfügbar sein, der sein Zimmer überhaupt nicht verlässt, weil der arme Teufel die ganze Zeit Regalwände zeichnen muss? Was soll das? Und wie pflanzen sich Schweden unter solch widrigen Umständen überhaupt fort?
Hat deswegen der schwedische Mediziner und spätere Nobelpreisträger Ulf von Euler das menschliche Sperma erforscht? Ich weiß es doch auch nicht.
Wo wir schon beim Thema sind:
Haben Sie sich schonmal gefragt, warum neuerdings gefühlt die Hälfte aller Mittelstandsfamilien ihren Kindern skandinavische Namen in den "Wir-lassen-unser-Kind-nicht-impfen-damit-es-nicht-autistisch-wird"-Impfpass reinschreiben? Mir schwant warum! Erstens holen sich die Eltern Inspiration bei den Möbelnamen und zweitens klingt das doch wunderschön harmonisch wie aus einem Guss, wenn durch die Lautsprecher tönt: "der kleine Olof-Johan-Erik möchte aus dem småland abgeholt werden… und er will alle blauen Bälle behalten!" und nach knarrendem Störrauschen wimmert flüsternd die selbe Stimme: "…Helfen sie mir! Jetzt will er auch noch die gelben…"
Aber ich schweife ab.
"Die einzige Bestimmung des Lebens ist seit jeher, weiterzugeben, was man gelernt hat. Es gab nie ein höheres Ziel", sagte ehrfurchtsvoll und von weiser Einsicht durchdrungen das ernste Gesicht von Morgen Freeman im Film »Lucy«.
Reformbedarf
Jedoch reicht es eben nicht, das Wissen dieser Welt nur als Give-Away einzuschätzen, es auf der kognitiven Tauschbörse der Aufmerksamkeitsökonomie zu verramschen; und genauso wenig auf der anderen Seite des Extrems soll es den Menschen an den Rand der Abwägungs-Verzweiflung bringen.
Wir brauchen eine Wissensreform. Wir nennen sie angewandtes Wissen. Eine, die auf Wertschätzung vor Wertschöpfung basiert, eine, die »das Wissen an sich« als Initialzünder in einer Kette von Verstehen, Sortieren, Einordnen und Verbessern funktionieren lässt.
Noch ein Beispiel: seit Jahrzehnten wird unter »sozialem Wohnungsbau« eine Architektur verstanden, die Menschen zu Bienen degradiert, die in Stöcken von Beton ihr Selbstgefühl verlieren und auf Grundstücken zusammen gepfercht werden, deren visuelles Highlight ein eigener Glascontainer darstellt. Und hinterher, nachdem die Hochhaussiedlung zum Problemviertel wurde, wundern sich die davon verschont gebliebenen Leute, warum diese Menschen abfallende Fetzen von zerschlissener Würde und Zufriedenheit in unendlich langen Fluren hinter sich her schleifen, mit Gesichtern, so leer wie das Averdunk-Centrum (sorry, Duisburg). Konzepte für Lebensqualität erhaltende oder gar erhöhende Wohnmodelle sind keine städteplanerischen Utopien, wo Zeppeline auf dem Mond gezogene Tomoffeln anliefern würden…. Es gibt genug sozialwissenschaftliches Forschungsmaterial zum gegenseitigen Bedingen von »Umgebung und Lebensführung«, diesem Joint Venture der Existenz. Dass Menschen in einer freundlichen Umwelt freudiger sind, bedarf noch nicht mal einem intellektuellen Eruieren. Und dennoch werden die kalten, menschenverschlingenden Blöcke weiter gebaut und als simple Problemlösungsstrategie verkauft. Die "Sozial"-Häuser sind eine architektonische Abfertigung, die den wohnlichen Rückzugsort zu einem menschlichen Kleinteile-Sortimente-Sammelkasten verkommen lassen. Wider besseren Wissens über die wirklichen sozialen Auswirkungen dessen.
Wenn wir in einer Informationsgesellschaft leben und zurecht kommen wollen, brauchen wir ein allgemeines Verständnis und eine Einigung über den Umgang mit Informationen. Wir dürfen unser Wissen nicht nur hoch halten, wir müssen es tief in der Erde verankern, zum Fundament eines neuen Humanismus werden lassen — ein Humanismus, der dem kalten Wissen einen blutwarmen Rahmen gibt. Ob wir laxe Unbelehrbare oder technokratischer Logiker sind, ergibt sich unleugbar aus unserem Verhältnis zum Wissen. Das Abwägen macht die Information erst verdaulich. Das Einordnen macht die Information zu etwas Planbarem. Das Sortieren bewahrt vor Prioritätenblindheit. Doch die Menschlichkeit erst gibt ihr einen Wert. Wir können die Welt immer noch verbessern. Wir wissen es nämlich nun besser als früher.
Denn hinterher werden wir nicht mehr sagen können: "Wir haben's net besser gewusst".
Autor:Timothy Kampmann aus Wesel |
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