Ihre VHS: Zeugnisausgabe für unsere Schulabschlusslehrgänge

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Heute möchte ich über Erfolge berichten!

Seit vielen Jahren arbeiten in der VHS Wesel - Hamminkeln - Schermbeck Menschen daran, einen Schulabschluss zu erwerben bzw. den bislang erreichten Abschluss zu verbessern.

Letzten Mittwoch konnte ich Zeugnisse austeilen und der große Vortragsraum in unserem Haus war gut gefüllt. Viele der jungen Menschen haben durch ihre Kleidung deutlich gemacht, dass dieser Tag für sie eine große Bedeutung hat und für mich und meine KollegInnen ist es immer ein bewegender Tag. Wir haben diese jungen Menschen in einer wichtigen Phase ihres Lebens begleitet.

Ja, ich weiß, den Hauptschulabschluss nach Klasse 9 macht man mit 15 Jahren, vielleicht mit 16.
Ja, man macht das so.
Es klappt aber eben nicht immer so.
Die Gründe dafür sind vielfältig. Heute konnte ich in der Zeitung lesen, dass man sich freut, dass der Prozentsatz der jungen Menschen, die ohne Abschluss die Schule verlassen auf 5,2 % eines Jahrgangs gesunken ist.

Aber das ist heute nicht mein Thema.

Am letzten Mittwoch habe ich 13 jungen Menschen das erste Abschlusszeugnis ihres Lebens überreicht. Und die meisten von ihnen werden mit dem Schwung dieses Erfolgs weitergehen. Zwei Absolventen hatten die 30 bereits überschritten und es ist toll, dass sie nun auch eine Ausbildung beginnen.

Viel Erfolg! Weiter so!

Neunzehn Mal konnte ich das Zeugnis für den Hauptschulabschluss nach Klasse 10 übergeben. Für die meisten ist dies eine Zwischenstufe, sie wollen im nächsten Jahr von mir ein Zeugnis über den Mittleren Schulabschluss, die Fachoberschulreife bekommen.

Dieses Zeugnis, also den Mittleren Schulabschluss, konnte ich 27 Menschen geben.

Und auch hier gilt, dass die meisten von ihnen den Weg des Erfolgs weitergehen. Die meisten in eine Ausbildung, einige suchen weitere schulische Herausforderungen.

Unsere Schulabschlusslehrgänge haben auch in diesem Jahr ihre hohe Qualität in einer zentral organisierten, standardisierten Prüfung unter Beweis gestellt.

Jedes Zeugnis erzählt eine Erfolgsgeschichte!

Aber es ist ein besonderes Gefühl, einem jungen Mann ein Abschlusszeugnis mit dem Notendurchschnitt 1,0 zu überreichen.

Und es ist toll, einer Frau ein Zeugnis übergeben zu dürfen, die sich mit 53 Jahren selbst bewiesen hat, dass sie mehr kann, als man ihr auf der Sonderschule zugetraut hat.

Während der Zeugnisübergabe habe ich auch darüber gesprochen, dass ich am selben Tag in der Zeitung habe lesen können, dass eine Schule so stolz war, dass dort junge Mütter ihren Schulabschluss nachträglich erworben haben. Allein in unserem Hauptschulabschlusskurs waren drei junge Mütter und zwei junge Väter erfolgreich.

An dieser Stelle noch einmal ein Gruß an alle unsere Absolventen und ein Wunsch:

Macht was draus!

Heiko Kirchesch

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Wer mehr wissen möchte über „meine Seniorin“, der kann hier unten weiterlesen, ich setze hier einfach den Text meiner kleinen Ansprache ein:

Der Wert von Bildung

Als mein Sohn nach seinem Abitur erst einmal eine Ausbildung zum Koch gemacht hat, habe ich einen Satz recht häufig gehört: „Dafür hätte er das Abitur ja gar nicht gebraucht.“

Ja, ein Schulabschluss ist die Eintrittskarte für ein Studium, für eine Berufsausbildung. Aber hat ein Schulabschluss auch einen Wert an sich?

Aus gegebenem Anlass möchte ich in diesem Jahr eine ganz persönliche Geschichte erzählen.

Vor rund drei Jahren meldete sich recht kleinlaut eine weibliche Stimme bei mir am Telefon. Sie fragte, wie denn bei der VHS Wesel - Hamminkeln - Schermbeck die Altersgrenze bei den Schulabschlüssen aussehen würde. Ich antwortete, dass wir keine Altersgrenzen setzen würden. Antwort: Jetzt mal im Ernst. Ich wiederholte meine Aussage und wir vereinbarten einen Termin für ein Beratungsgespräch.

Meine Gesprächspartnerin hatte keine wirklich erfolgreiche Schulkarriere hinter sich. Das Ergebnis: ein Abgangszeugnis der Sonderschule. Und bevor man mir Vorwürfe macht, dass es doch nicht Sonder-, sondern Förderschule heißen müsste, die Dame, die im September 2010 im mein Büro kam, sollte ein paar Monate später den 50. Geburtstag feiern.

Ich war beeindruckt von meiner Gesprächspartnerin Frau K. Eine – wie man so sagt – gestandene Frau, die mehrere Kinder erfolgreich durch deren Schulleben begleitet hat, berufstätig, energiegeladen. Und sie war bildungshungrig, wissbegierig, ja, wirklich gierig auf Wissen.

Aber Selbstvertrauen? Kaum wahrnehmbar.

Ich habe sie auf meine Warteliste gesetzt, ihr aber nur wenig Hoffnung machen können, denn die neuen Lehrgänge standen kurz vor dem Start und waren voll belegt.

Und ich spürte, dass sie dies als Absage, vielleicht sogar als erneutes Abschieben empfand.

Eine Stunde später an diesem Nachmittag sagte eine andere Teilnehmerin ab. Und ich habe Frau K. den plötzlich frei gewordenen Platz gegeben.

Diese Entscheidung war nicht uneigennützig von mir.

Für mich sind unsere Schulabschlusslehrgänge immer eine Herausforderung für die Lernenden und Lehrenden, eine bunte Mischung verschiedener Altersstufen, ein Zusammentreffen unterschiedlichster Lebensgeschichten und –entwürfe. Ich erhoffte mir, dass die (lebens-)erfahrene Mutter durchaus einen guten Einfluss auf junge Leute haben könnte.

Heute weiß ich, dass meine Entscheidung richtig gewesen ist.

Heute werde ich Frau K. das Zeugnis übergeben, dass ihr den Hauptschulabschluss nach Klasse 10 bescheinigt.

Und ich denke daran zurück, dass ich Frau K. drei, vier Tage nach Lehrgangsbeginn auf dem Flur traf und sie mir unter Tränen berichtete, dass ihre Freundin sie am Abend zuvor gefragt hätte: „Warum tust du dir das an? Du schaffst das doch eh nicht.“

Und heute sage ich ihr: „Frau K., zeigen Sie dieser „Freundin“ Ihr Zeugnis! Sie haben es geschafft!“

Wenn Frau K. uns verlassen wird, dann wird dies ein Verlust für die VHS Wesel - Hamminkeln – Schermbeck sein.

Nicht nur, weil ich nicht mehr diese erstaunten Blicke von jungen Ratsuchenden bei uns sehen werde, wenn ich sie habe schätzen lasse, wie alt denn wohl der älteste Teilnehmer bei uns wäre.

Und ich in der Mimik eines 20-Jährigen lesen kann: „Was will die denn da? Die steht doch kurz vor der Rente!“ Und manch einer hat auch gefragt: „Will die denn dann auch noch eine Ausbildung machen?“

Nein, vermutlich nicht.

Und ich müsste dann eigentlich erklären, dass ein Schulabschluss so viel mehr ist, als eine Eintrittskarte in eine Berufsausbildung.

Auch wenn es seltsam unmodern klingt. Auch wenn die ‚Wirtschaft‘ es nicht gern hört.

Bildung ist ein Wert an sich.

Und ein Schulabschluss dokumentiert dem betroffenen Menschen, der Umgebung, der Gesellschaft, das Erreichen eines bestimmten Bildungsniveaus.

Und darum ging es auch bei Frau K.

Ich habe es oft mehr launig gesagt, Frau K. ist in der Zeit bei uns um 10 cm gewachsen. Ihr Selbstvertrauen ist gestiegen. Sie hat Spaß am Lernen gefunden. Sie hat sich und eigentlich allen Menschen, die der Meinung waren, sie wäre zu Recht der Sonderschule zugewiesen worden, bewiesen, dass sie „es“ in einer Nicht-Sonderschule geschafft hat.

Nein, das Zeugnis von Frau K. ist nicht das Zeugnis mit dem besten Durchschnitt. Aber ist dieses ständige und nach und für Draußen dokumentierte Vermessen von Bildung wirklich so aussagekräftig? Es ging ihr und mir nicht darum, Frau K. mit anderen zu messen, wichtig war allein, sich selbst zu beweisen, dass „man“ es kann.

Und dies nach einer zentral organisierten, standardisierten Prüfung attestiert zu bekommen, macht sie stolz. Zu Recht. Und mich auch.

Bildung ist mehr als einem Anforderungsprofil der Wirtschaft zu genügen.
Bildung ist mehr als der Durchschnitt unserer sechs Noten.
Bildung ist mehr als bessere Noten als der Durchschnitt zu haben.

In Noten und auch in den Forderungen der Wirtschaft tauchen viele Bereiche einfach nicht auf, obwohl sie doch Teil von Bildung sind. Jedenfalls in meinem Bild, in meiner Definition von Bildung.

Wo kann ich in unseren Zeugnissen die Freude ausdrücken, als Frau K. nicht nur für ihren Lehrgang eine Weihnachtsfeier organisierte, sondern auch als einen Teil dieser Feier jedem Teilnehmer ein hübsch verpacktes Glas mit Plätzchen übergab? Finanziert hat sie diese Aktion mit dem Erlös der Rückgabe von Pfandflaschen, die andere Teilnehmende achtlos weggeworfen oder gar einfach so hinterlassen haben.

Wie könnte ich die Funktion als „Mutter des Lehrgangs“ in Noten fassen? Es ist eben eine andere Situation, ob unsere Teilnehmenden von einer Lehrkraft oder von einer anderen Teilnehmerin auf Fehlverhalten hingewiesen werden. Wo soll ich eine Note für Integration vergeben?
Für Hilfsbereitschaft?
Für Kooperatives Verhalten?
Für gute Laune trotz Mehrfachbelastung als Schülerin, Mutter, Arbeitnehmerin…
In der Regelschule wird man auf die Note für „Sozialverhalten“ verweisen. Doch passt das?

Und wie könnte ein Zeugnis so etwas wie gewonnenes Selbstbewusstsein, Selbstvertrauen ausdrücken? Wo finde die Stelle, an der ich eintragen kann: Lust am Lernen wiedergefunden? Wo die Fähigkeit, mit offenen Augen und Neugier durch das Leben zu gehen?

Das alles ist für mich auch Teil von Bildung.

Als Frau K. hier begonnen hat, da habe ich ihr gesagt, dass wir ihren Einstieg als Experiment betrachten sollten. Als Experiment, von dem wir beide am Anfang nicht wissen konnten, wie es ausgehen würde. Frau K. hat mich vor einigen Wochen gefragt, ob ich unser Experiment als gelungen bezeichnen würde.

Kann es daran Zweifel geben?

Ich bin stolz auf unser gemeinsames Experiment, Frau K!

Autor:

Heiko Kirchesch aus Wesel

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