h-Moll-Messe am 9. Dezember 2012 in St. Mariä Himmelfahrt Wesel

Foto: privat
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Was ein Chorsänger lernt

H-Moll-Messe von Joh. S. Bach oder die perfekte Verbindung von weltlicher Musik mit Kirchenmusik

H-Moll-Messe - ist das nicht dieses Werk mit den schier endlosen Notenläufen und einer Partitur, bei deren Einblick man vor lauter schwarzem Punkte-Gewimmel den Überblick zu verlieren glaubt?
Ja, genau das ist der erste Eindruck, wenn man als Chorsänger den Klavierauszug aufschlägt. Aneinander gereihte Noten, rauf und runter, Tonsprünge und ungeahnte Höhen - seitenweise geballte Vertonung des vollständigen Ordinarium Missae mit den fünf feststehenden Stücken der altkirchlichen Liturgie: Kyrie, Gloria, Credo, Sanctus, Agnus Dei. Wer glaubt, dass es nur um das Singen der richtigen Töne geht, dem fehlt ein wichtiger Zugang zu diesem prominentesten Werk von Bach.

Wenn man zum Collegium Vocale an St. Mariä Himmelfahrt Wesel gehört, bekommt man neben der gesanglichen Herausforderung mit jeder Probe ein kleines Studium der barocken Kirchenmusik gratis geschenkt. Es ist unglaublich, was Bach selbst in die kleinsten Verzierungen packt, wie er alte Musikstile für seine theologische Aussage einsetzt und mit welchen Kunstgriffen er dem Text seinen musikalischen Ausdruck verleiht.

Diesen Hintergrund vermittelt Willem Winschuh seinem Collegium, während er bei jeder Textstelle an ihrem sprachlichen und gesangstechnischen Ausdruck feilt. Ihm geht es darum, dass jeder Chorsänger begreift, was er da gerade singt und warum es nur so und nicht anders gesungen werden soll. Das ist spannend und überraschend vielfältig.

Und der Chorsänger lernt...

So bietet Bach besondere Klangeffekte z.B. im "Sanctus" und im "Osanna", denn beide sind doppel-chörig angelegt. "Osanna in excelsis" - schon tausendmal in vielfacher Form gesungen. Der Chorsänger lernt: ob im gravitätischen Unisono oder in aufsteigenden Koloraturen, die den Jubel von der Erde bis in die Höhen des Himmels darstellen - immerzu bleibt es majestätisch, trotz der fast tänzerischen Ausführung.
Das liegt wohl auch am ausgesprochen weltlichen Ursprung des Osanna. Hier übernahm Bach den ersten Satz des Dramma per Musica: „Es lebe der König, der Vater im Lande“, gewidmet König August I. zum Namenstag. In der geistlichen wie auch in der weltlichen Form geschieht hier eine musikalische Verehrung des Königs (ob weltlich oder himmlisch ist hier Nebensache). Hierin zeigt sich die perfekte Verbindung von weltlicher mit Kirchenmusik.

Das kommt nicht von ungefähr, denn Bach bedient sich bei der Zusammenstellung bei sich selbst. Er stellt die Messe in h-Moll zusammen, denn nur wenige Teile entstehen neu. Kyrie und Gloria bildeten bereits eine eigenständige Missa. Der Eröffnungssatz des Symbolum Nicenum (Credo) entsteht dagegen völlig neu. Älteren Datums sind dagegen das "Patrem omnipotentem" (Bach hat hier dem ersten Satz der Kantate BWV 171 von 1729 einen neuen Text unterlegt) und das "Crucifixus". Was der Chorsänger dabei lernt: die ebenso sinnliche wie ausdrucksstarke chromatisch absteigende Ostinato-Figur symbolisiert in der Kantate wie auch im "Crucifixus" das Leiden Christi.

Durch und durch sakral wirkt der Ursprung des Agnus Dei, doch es hat auch Wurzeln in einer weltlichen Kantate. Bachs Kunst, dieselbe Musik unterschiedlichen Texten anzupassen, demonstriert er auch im "Dona nobis pacem": Er wiederholt dazu das "Gratias agimus tibi", den siebten Satz des Glorias der bestehenden Missa von 1733. Der Chorsänger lernt: die Noten sind irgendwie bekannt, aber die Textverteilung ist tückisch.

Recycling oder geniales Kunstwerk?

Was hier wie Recycling wirkt, ist bei genauerer Betrachtung ein geniales Kunstwerk mit allen muskalischen Registern: alter Palestrina-Stil, tänzerisch beschwingte Barockfiguren, strenge "Gratias"-Fuge und Erhabenheit des gregorianischen Chorals.

Chorsängers Liebglings-Sätze derzeit: das "Et resurrexit" als eine strahlende Auferstehung mit Trompeten und Pauken und das "Gloria", dessen walzerartigem Rhythmus man sich nicht entziehen kann. Der Chorsänger lernt und findet nur eines schade: dass mit dem Chorkonzert im Advent am 9. Dezember das lehrreiche kirchenmusikalische Freizeit-Studium ein vorläufiges Ende findet.

Autor:

Dagmar Persing aus Wesel

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