Eintrag kulturelles Tagebuch: 22. März; offene Bühne und der colalastige Rückblick

Newtonpendel aus Mikrofonen

Zum Thema offene Bühne im Scala Kulturspielhaus ist ja eigentlich schon alles bekannt: Eintritt frei, Auftritt frei, gemütliche Atmosphäre — das sind Eckdaten, die so bekannt sind wie der Gangnam Style. Und dennoch ist jeder dieser Abende ein bestens unterhaltendes Überraschungspaket.

…Moment, ich muss kurz such… wo is'es denn… eben hat'ichs no… …ah, ja. Also schön. *feierlich räusper*
Hiermit verleihe ich diese Auszeichnung, die "goldene Sinuswelle hervorgebracht von einem Instrument aus Naturprodukten" an den Dudelsackspieler Tom Büning, der nicht nur begeistert, sondern auch höchst virtuos gespielt hat — und zwar zur spaßigen Verzückung des gesamten Publikums.

Auch Akke war wieder dabei, diesmal "ukulelisierte" er Grönemeyer und erzählte in einer witzigen Persiflage — mit der Melodie von Helene Fischers Atemlos — die Geschichte eines Seglers mit Alkohol- und Überlebensproblemen. An Galgenhumor kann man schließlich auch ein Segel hängen.

Gitarrenmusik gabs von Marc Dahmen (schlagerkräftiges Argument musikalischer Art), Burkhard Nöh (gebt ihm einen nachbarschaftlichen Konflikt oder eine Exfreundin, und er macht ein Lied daraus) und vom Überraschungsact John Soulbeck.

Und Dr. Pop war da!
[Interessierter Mitleser von links:
"Ja klar. Der Doktortitel ist so echt wie der von der Dr Pepper Cola. Oder von dem Karl-Theodor Maria Nikolaus Johann Jacob Philipp Franz Joseph Sylvester Buhl-Freiherr von und zu …Na… wie hieß der Drucker gleich"
Seinen Senf dazu gebender anderer Mitleser von der rechten Seite:
"Epson"
"Quatsch! Guttenberg."
"Lies' doch erst mal weiter, vielleicht steht da noch mehr!"]
Dr. Pop hat in Populärmusik promoviert und seine Punchlines enthalten Spuren von Charts, Anekdoten und Funfacts der Musikindustrie. Sehr sehr witzig und ausgelassen.

Der Verfasser dieser Zeilen stand ebenfalls auf der Bühne und referierte (in Poetry-Slam-Manier) unter anderem über die Querverbindungen von SED-Traumabewältigung, Amazons Alexa und unterschreibende Pfanni-Kartoffeln. Das hat alles einen größeren Sinn!

Eines darf ich nicht vergessen:
Es gibt diese manipulative, "Namedropping" genannte Zitation berühmter Persönlichkeiten — mit dem Zweck, fehlender Glaubwürdigkeit ein neuro-linguistisch-programmiertes Surrogat hinzuwerfen. Also: wenn der Gebrauchtwagen-Händler Plato, Buddha oder Florian Silbereisen zitiert… dann ist aufpassen angesagt!

Mitnichten soll dies hier der Fall sein, aber… Schopenhauer! Der große Philosoph Arthur Schopenhauer!
Musik war für ihn ein Heilmittel, das den ewig strebenden und doch nie erfüllten Menschen aus der unzufriedenen und aufbesserungsbedürftigen Trostlosigkeit der Sinnsuche herauszieht und rettet. Musik bedeutete ihm dementsprechend sehr viel.
Und in seiner Musiktheorie sah er in den tieferen Tönen das Materielle, Elementare und die Stofflichkeit der Erde. Aus den höheren Tönen der Musik hingegen spürte er das Naturhafte, das aus Materie Leben hervorbringt, das quicklebendige Verhalten, das Bewegte und Bewegende auf dieser Erde.

Mit dieser Auslegung ist nachvollziehbar, wie Sophia Rosenthal mit ihrer klassischen, feinen Gesangstimme am Keyboard aus allerlei Tönen etwas erschafft. Denn so umfangreich ihr Stimmeneinsatz, mit toll eingesetzten tonalen Höhen und Tiefen — in Covern von Alicia Keys über P!nk — legt sie einen Grund und belebt ihn reichhaltig und voll, pflanzt auf frischem Boden einen neuen Garten… am Ende ist es ein Shangri-La aus Gesang.
Bei ihrem Auftritt hat man auch diesen schönen Qualitätsindikator hier beobachten dürfen: wenn sich das Publikum danach sehnt, am Ende des Stücks endlich in einem Akt der emotionalen Befreiung applaudieren zu dürfen.

Wenn der Herr Schopenhauer gestern dagesessen und ihr zugehört hätte, wäre sein beseeltes Lächeln irgendwo zwischen dem der Mona Lisa und dem der beiden Typen vom Etikett der Fritz-Cola angesiedelt gewesen.

Sowas gibts nur bei der offenen Bühne.

Autor:

Timothy Kampmann aus Wesel

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