Spinnweben - Filigran, aber gefährlich

Sie legt den Kopf in den Nacken und genießt die wärmenden Sonnenstrahlen. Es ist still im Park. So früh sind nur wenige Spaziergänger unterwegs.

Doch hier findet sie die Stille nicht bedrohlich. Nicht so, wie zu Hause. Wo sie sich manchmal die Ohren zuhalten muss, um das Echo, das die Stille von den Wänden zurückwirft, nicht zu hören. Diese Stille – nicht einmal unterbrochen vom Läuten des Telefons.

Fröstelnd zieht sie die Jacke enger um sich. Es ist schon kühl am Morgen. Zeichen des nahenden Herbstes. Noch lebt die Natur, doch schon bald wird sie sich zurückziehen in den Winterschlaf. Der Gedanke daran ängstigt sie. Wie wird es sein, wenn die Tage wieder dunkel und kurz werden?

Etwas berührt ihr Gesicht. Sie hebt die Hand, um es fortzuwischen und öffnet die Augen. In den Zweigen über ihr hängt ein Spinnenetz. Ein paar Fäden müssen heruntergefallen sein. Zart und filigran hängt es dort. Tautropfen haben sich darin niedergelassen und glitzern in der Morgensonne. Was für ein Kunstwerk! Leicht und schwerelos – doch für den, der sich darin verfangen hat, gibt es kein Entrinnen mehr.

Irgendwo im Hintergrund hält sich die Künstlerin verborgen. Die Jägerin, die auf Beute lauert. Die nur darauf wartet, dass sich etwas im Netz verfängt. Um es mit ihrem Biss zu lähmen und in ihren Kokon einzuspinnen.

Ist sie nicht auch längst gefangen? Oder ist sie die Jägerin? Wenn sie, wie die Spinne auf Beute, darauf wartet, dass das Telefon klingelt? Ja, dann vielleicht! Aber wenn es dann klingelt und sie den Hörer abnimmt, dann ist sie die Gefangene.

Eingesponnen von seiner Stimme, seinen Worten. Sanft, zärtlich, sie einhüllend, wie eine wärmende Decke! Und doch klebrig wie Spinnweben. Je verzweifelter sie versucht, sich aus dieser Umhüllung zu befreien, desto fester spinnt sich der Kokon um sie. Nimmt ihr die Luft zum Atmen.

Wie oft hat sie ihn angeschrieen? Gebettelt, gefleht, gedroht! Ihm ein Ultimatum gestellt! Auf eine Entscheidung gedrängt! Wie oft hat er ihr gesagt, dass diese Entscheidung längst gefallen ist? Für sie! Er braucht nur noch ein wenig Zeit! Ein paar Tage, vielleicht ein paar Wochen. Aber dann!

Immer wieder gelingt es ihm, sie zu beschwichtigen. Ihren Zorn zu besänftigen. Mit seinen Worten, die ihre Seele streicheln. Er weiß, was sie hören will – und er sagt es ihr. Lähmt sie, wie die Spinne ihr Opfer!

Gerade hat sich ein Schmetterling im Netz verfangen. Er schlägt mit den Flügeln, um sich zu befreien. Eine Weile beobachtet sie seine vergeblichen Versuche. Schaut zu, wie er sich immer mehr verheddert. Hat Mitleid mit diesem zarten Geschöpf, dass nun dem Tode geweiht ist. Die Spinne kriecht aus ihrem Versteck, nähert sich ihrer Beute. Gleich ist es zu spät! Seine Tage waren eh gezählt! Mit dem Sommer sterben auch die Schmetterlinge. So oder so!

Sie steht auf, um zu gehen. Wirft noch einen letzten Blick auf das glitzernde Netz. Doch dann, ohne es eigentlich zu wollen, hebt sie die Hand! Zerstört dieses kleine Meisterwerk. Der Schmetterling ist frei! Er taumelt noch ein wenig – dann fliegt er fort. In die Freiheit – oder ins nächste Spinnenetz.

Lächelnd schaut sie ihm nach! Wie leicht es war, das Netz zu zerreißen! Sie hat den Schmetterling gerettet – und sich selbst wird sie auch retten. Wird sich nicht mehr einlullen lassen von schönen Worten. Wird die klebrigen Fäden abstreifen! Auch wenn sie danach ein wenig taumeln wird. Sie wird sich fangen – und in die Freiheit fliegen! Wieder atmen können. Und dann wird ihr eines Tages auch die Stille nicht mehr so laut vorkommen!

Als sie die Haustür aufschließt hört sie das Schrillen des Telefons.

Und rennt – drei Stufen auf einmal nehmend – die Treppe hinauf!

© Siglinde Goertz

Autor:

Siglinde Goertz aus Uedem

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