Sonnenuntergang

Die untergehende Sonne tauchte das Zimmer in ein warmes, rötliches Licht. Doch auch das sanfte Rot, das sich über ihr Gesicht legte, konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie müde aussah. Sehr müde.
Unzählige schlaflose Nächte hatten ihre Spuren hinterlassen. Tiefe Kerben um ihren Mund ließen sie verbittert aussehen. Ihre Augen hatten jeden Glanz verloren. Das lebhafte Funkeln, der wache, neugierige Ausdruck - verschwunden. Ein Anflug von Furcht überkam sie, wenn sie in diese dunklen, seelenlosen Löcher schaute.

Rasch wandte sie sich vom Spiegel ab. Sie mochte sich nicht mehr ansehen. Nicht die leblosen Augen, nicht die Falten um den Mund, die sie so unzufrieden aussehen ließen. Sie lauschte angestrengt - doch kein Geräusch unterbrach das Schweigen, das seit Monaten im Haus herrschte. Vielleicht sollte sie einfach mal rausgehen. Auf langen Spaziergängen versuchen, vor der Stille zu fliehen. Doch wozu? Irgendwann musste sie ja zurückkehren. Zurück in dieses Haus. Vollgepackt mit Erinnerungen, die wie Gespenster in den Ecken hockten. Dabei waren es schöne Erinnerungen – vielleicht tat es deshalb ganz besonders weh.

Anfangs waren noch die Freunde da. Riefen an, kümmerten sich. Doch nach und nach wurden die Anrufe seltener, die Einladungen spärlicher, blieben schließlich ganz aus. Es lag wohl an ihr. Ja, sie war schwierig geworden. Schwierig und ein wenig seltsam. Sie wusste es, aber sie konnte es nicht ändern. Wollte es auch nicht. Ihr fehlte die Kraft dazu.

Wenn sie wenigstens schlafen könnte. Nur einmal wieder eine ganze Nacht durchschlafen. Tief und fest und traumlos. Um am nächsten Morgen erfrischt und ausgeruht aufzuwachen. Oder auch nicht. Ja, das wäre am besten: Gar nicht mehr aufwachen. Was sollte es denn noch, dieses Leben? Es war doch niemand mehr da, für den es sich zu leben lohnte.

Früher – ja früher, da hatte sie sich immer noch Mut gemacht. Hatte sich gesagt: „Für dich lohnt es sich! Du hast doch noch so viel zu geben!“ Aber was nützte das? Niemand wollte haben, was sie zu geben hatte! Sie hatte keine Lust mehr zu kämpfen! So viele Träume waren schon ausgeträumt, so viele Hoffnungen zerbrochen.

Die Wände schienen immer näher zu rücken. Ihr war, als bekäme sie keine Luft mehr. Sie riss den Schlüssel vom Haken. Raus hier – nur raus. Egal wohin!

Der Himmel schien zu brennen, als sie aus der Haustür trat. Doch sie hatte keinen Blick für die Schönheit des Sonnenuntergangs. Nahm nichts von dem wahr, was um sie herum geschah. Sah nicht die ersten Frühlingsboten, hörte nicht das Zwitschern der Vögel und spürte nicht die frische kühle Luft. In ihrer Seele war November.

Sie lief einfach los, ohne auf die Richtung zu achten. Erst als ihr das Wasser in die Schuhe lief, merkte sie, dass sie zum nahe gelegenen Fluss gegangen war. Die Regenfälle der letzten Woche hatten ihn über die Ufer treten lassen.

Schon stand sie bis zu den Knien im Wasser. Doch sie blieb nicht stehen. Ging immer weiter, bis der Fluss ihre Hüften umspielte. Es wurde allmählich dunkel, die Sonne zeichnete nur noch einen schmalen roten Streifen an den Horizont. Nicht mehr lange und sie würde ganz verschwinden. Ein paar Vögel suchten ihr Nachtlager in den Bäumen, die das Ufer säumten. Einer flog ganz dicht an ihr vorbei. So dicht, dass sie erschrocken den Kopf einzog und einen Moment so verharrte.

Sie stand ganz still. Ließ die friedliche Stimmung auf sich wirken. Hörte auf einmal wieder das Zwitschern der Vögel und das Plätschern des Wassers. Spürte, wie ihr kalt wurde. Und plötzlich wurde ihr bewusst, was sie gerade zu tun im Begriff war! Wollte sie wirklich ihr Leben wegwerfen? Einfach so sang – und klanglos aufgeben? Wollte sie wirklich nicht mehr kämpfen?

Nein! Niemals! Sie würde nicht gehen! Nicht jetzt! Sie spürte, dass ihre Zeit noch nicht gekommen war. Vielleicht würde sie den Kampf irgendwann verloren geben – aber nicht jetzt! Nur schnell nach Hause, eine heiße Dusche nehmen – und dann würde sie ihre Freunde anrufen! Die Stille durchbrechen, die ihr Echo von den Wänden warf! Endlich wieder leben! Sie lachte und weinte gleichzeitig. Drehte sich energisch um und ......

..... plötzlich zog ihr irgend etwas den Boden unter den Füßen weg. Als ihr Kopf auf einem der Steine aufschlug, verlosch gerade das letzte rote Leuchten. Die Sonne zwinkerte ihr zu. Ein letztes Mal...

Dann wurde es dunkel!

© Siglinde Goertz (2007)

Autor:

Siglinde Goertz aus Uedem

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