Finchen - oder: Mit den Füßen voran....

.... nur so würde sie ihr Haus verlassen! Das hatte sie ihrem Hubert auf seinem Sterbebett geschworen!
Und genau so wurde sie jetzt, unter den teils betretenen, teils neugierigen Blicken der vorbeieilenden Passanten, aus ihrem Haus getragen. Mit den Füßen voran, zugedeckt mit einem weißen Laken.

Ja – sie war immer eine liebenswerte Person gewesen, die Josefine – von allen nur liebevoll Finchen genannt. Immer freundlich, immer hilfsbereit. Ein wenig scheu und verhuscht wirkte sie manchmal, aber das lag wohl daran, dass ihr Hubert ihr jede Entscheidung aus der Hand nahm. Klein und schmächtig war er, kaum größer als Finchen, aber das täuschte gewaltig! Hubert hatte das Sagen! Der ließ sich nicht die Butter vom Brot nehmen. Und schon gar nicht das Heft aus der Hand.

Davon hatte Finchen Zeit ihres Lebens ein Liedchen singen können. Aber sie stellte sich gerne unter seinen Pantoffel. Wusste sie sich doch gut dort aufgehoben. Ihr kluger Hubert regelte schon alles zu ihrer Zufriedenheit. Nur einmal, ein einziges Mal, hatte er Mühe seinen Willen durchzusetzen. Damals, als seine Eltern starben und ihm das riesige alte Haus vererbten. Da hatte er darauf bestanden, mit Finchen zusammen dort einzuziehen. Mit Händen und Füßen hatte sie sich dagegen gesträubt. Zu groß war es ihr – zu dunkel, viel zu viel Arbeit. Und der Garten erst... Dabei war es dann der Garten, der Finchen zum Nachgeben bewegte. Herrlich verwildert, voller Obstbäume und Beerensträucher. Platz genug für Schaukel und Sandkasten. Ein Paradies für Kinder eben!

Ach ja.. wenn Finchen damals schon gewusst hätte, dass ihnen jeglicher Kindersegen versagt bleiben würde – dann hätte sie sich vielleicht doch noch entschlossen, nicht in das Haus zu ziehen. Aber so tapezierte, malerte und renovierte sie voller Elan, bis aus dem alten, düsteren Kasten ein helles, freundliches Heim geworden war. Nun fehlte nur noch Kinderlachen in den Räumen. Doch jeden Monat wurde ihre Hoffnung wieder zunichte gemacht. Jahr um Jahr um Jahr! Bis sie endlich begriff, dass es nun endgültig zu spät war. Sie würde niemals Mutter werden!

Irgendwann hatte sie die Idee, auf die Kinder anderer Leute aufzupassen. Es gab doch so viele berufstätige Mütter, die froh wären, wenn sich jemand um ihre Kinder kümmern würde. Im Haus war Platz genug und der Garten war doch ideal! Die Vorstellung, dass doch noch Schaukeln in den Obstbäumen hingen und Kinderlachen durch die Räume schallen würde, gefiel ihr.

Doch sie hatte die Rechnung ohne Hubert gemacht. Er hatte Angst um seine gewohnte Ordnung. Kinder brachten den Tagesablauf durcheinander, den er so straff für sein Finchen organisiert hatte. Finchen versuchte aufzubegehren – aber letzten Endes fügte sie sich. Wie sie sich immer gefügt hatte!Hubert wusste schon, was gut und was richtig für sie war.

So vergingen die Jahre. Die Nachbarschaft veränderte sich im Laufe der Zeit. Immer mehr Familien zogen fort, Wohnhäuser wichen Geschäften und Bürogebäuden. Direkt gegenüber von Hubert und Finchens Haus eröffnete ein Reisebüro. Oft stand Finchen nun vor dem Schaufenster, sah sich die Hochglanzfotos an und träumte von Reisen in ferne Länder. Hubert lachte sie nur aus. Reisen kam für ihn nicht in Frage. Wozu in die Ferne schweifen…?

Als er dann seinen Schlaganfall hatte und sich nicht mehr bewegen konnte, blieb Finchen keine Zeit mehr zum träumen. Ihre ganze Aufmerksamkeit forderte er für sich. Aber Finchen beklagte sich nicht. Machte und tat was immer er wollte, nur damit er zufrieden war.

Eines Tages bekamen sie Besuch. Ein außergewöhnliches Ereignis. In den letzten Jahren war niemand mehr zu Besuch gekommen. Zwei gut gekleidete, äußerst höfliche Herren, die unbedingt den Besitzer des Hauses sprechen wollten. Finchen führte sie zu Hubert und zog sich dann diskret zurück. Gespräche unter Männern hatte sie nicht zu stören, das hatte sie in ihrer Ehe mit Hubert gelernt.

Doch sie blieb in der Nähe, falls er sie brauchte. Worauf sie nicht lange warten musste. Nach einigen Minuten ertönten laute Stimmen aus dem Zimmer, dann öffnete sich die Tür und die beiden Herren traten kopfschüttelnd aus dem Zimmer. Sie verabschiedeten sich von Finchen und einer drückte ihr eine Visitenkarte in die Hand. „Falls er es sich anders überlegt, dann soll er uns anrufen!“ Verständnislos schaute Finchen ihn an, aber bevor sie noch fragen konnte, um was es überhaupt ging, fiel schon die Tür ins Schloss!

Zeit zum Überlegen blieb ihr auch nicht, weil Hubert nach ihr rief. Was heißt rief? Ganz aufgeregt schrie er nach ihr, kreischte schon fast. Achtlos steckte sie das Kärtchen in die Rocktasche und eilte zu ihm. Alles, was sie seinem wütenden Gestammel entnehmen konnte, war sein Befehl, die Familienbibel herbeizuholen. Dem sie wie immer natürlich sofort Folge leistete.

Als sie mit dem dicken, schweren Buch zurückkam, ließ er sie die Hand darauf legen und bei Gott schwören, dass sie dieses Haus nur auf einem Weg verlassen würde: Auf einer Bahre, mit den Füßen voran und mit einem Laken zugedeckt! So wie er es auch tun würde! Vollkommen verängstigt tat sie, wie ihr geheißen. Um dann sogleich zum Telefon zu eilen und den Arzt anzurufen. Doch es war zu spät. Als ihr langjähriger Hausarzt eintraf, konnte er nur noch Huberts Tod feststellen. Diese Aufregung war zu viel für ihn gewesen.

In den nächsten Wochen war Finchen wie betäubt. Automatisch erledigte sie die Formalitäten für die Beisetzung, kümmerte sich um den Nachlass. Viel hatte er ihr nicht hinterlassen, aber es reichte um ihr bescheidenes Leben weiterzuführen. Zum Glück gehörte das Haus ja ihr, so dass sie keine Miete zahlen musste.

Immer öfter stand sie jetzt wieder vor dem Reisebüro. Besonders die Bilder von dem Kreuzfahrtschiff faszinierten sie. Wie gerne wäre sie auch an Bord. Doch wovon? Seufzend steckte sie die Hand in die Rocktasche. Nanu - was war denn das? Sie zog die Hand wieder aus der Tassche – und schaute verwundert auf die Visitenkarte, die sie ganz vergessen hatte. Nun ja – worum auch immer es gegangen sein mochte, das hatte sich in der Zwischenzeit sicherlich eh schon erledigt.

Einige Wochen später stand wieder eine große schwarze Limousine vor dem Haus. Ernst dreinschauende Männer brachten ein Trage hinaus. Schwer zu tragen hatten die Männer nicht an ihrer Last. Eine kleine zierliche Gestalt lag auf der Bahre, zugedeckt mit einem Laken.

Verwundert blieben die Passanten stehen, als die Bahre vor der Limousine Halt machte. Mit offenen Mündern sahen sie zu, wie die kleine zierliche Gestalt das Laken zurück warf, sich aufrichtete und von einem der Männer von der Bahre gehoben wurde, während die anderen eine stattliche Anzahl von Koffern in den Kofferraum der Limousine beförderten.

Ein gut gekleideter Herr öffnete die Fondtüre des Wagens und half der alten Dame galant beim Einsteigen. Dann schloss sich die Tür und das Fahrzeug setzte sich in Bewegung.

Lächelnd saß Finchen auf dem komfortablen Rücksitz, in der Hand das Ticket für eine Kreuzfahrt. Die erste von hoffentlich noch vielen. Bezahlbar geworden, durch den Verkauf des Hauses.
Zum Glück hatte sie doch noch die Telefonnummer von der Visitenkarte angerufen!

Und was das Beste war: Sie hatte ihren Schwur nicht gebrochen! Auf der Bahre sollte sie das Haus verlassen, mit den Füßen voran und mit einem Laken zugedeckt.

Dass sie dabei tot sein müsse – das hatte er nicht verlangt!

© Siglinde Goertz

Autor:

Siglinde Goertz aus Uedem

following

Sie möchten diesem Profil folgen?

Verpassen Sie nicht die neuesten Inhalte von diesem Profil: Melden Sie sich an, um neuen Inhalten von Profilen und Orten in Ihrem persönlichen Feed zu folgen.

Folgen Sie diesem Profil als Erste/r

8 Kommentare

online discussion

Sie möchten kommentieren?

Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.

add_content

Sie möchten selbst beitragen?

Melden Sie sich jetzt kostenlos an, um selbst mit eigenen Inhalten beizutragen.