Broken Wings

Ihr Atem ging schwer, als sie die Tür aufstieß, die auf das Dach hinausführte. Es war viel Zeit vergangen, seit sie das letzte Mal hier oben gewesen war.

Damals! Als alles noch anders war! Oft hatte er sie gepackt und lachend die letzten Stufen hinaufgetragen. Dann hatten sie gemeinsam hier oben gesessen, die Sterne zum Greifen nah, und den herrlichen Ausblick auf die nächtliche Stadt genossen. Hatten sich Geschichten ausgedacht, was wohl hinter all den hell erleuchteten Fenstern gerade so passierte.

Sie hatten getanzt, hier auf dem Dach des schäbigen Hochhauses. Manchmal gefährlich nah am Abgrund – doch sie hatte sich niemals gefürchtet. Denn er hielt sie! Würde ihre Hand immer festhalten, ihr konnte nichts passieren! Eng umschlungen hatten sie auf dem schmalen Sims gestanden. „Hab keine Angst“ sagte er „Ich schenk dir Flügel.“ Und sie hatte keine Angst. Zusammen konnten sie fliegen!

Doch irgendwann, unmerklich zuerst, lockerte sich sein Griff. Immer öfter kam sie alleine hier herauf – schaute auf die Lichter der Stadt und fragte sich, hinter welchem der Fenster er jetzt gerade wohl war. Wessen Hand er hielt, mit wem er tanzte. Noch kam er zu ihr nach Hause – aber er war nicht mehr bei ihr. Seine Gedanken waren weit fort. Seine Hände wärmten ihre nicht mehr.

Eines Tages kam er dann gar nicht mehr. Ließ sie alleine zurück. Halbiert, zerrissen. Sie waren eine Einheit gewesen. Vorbei! Sie war nicht mehr fähig, zu fliegen. Ihre Flügel waren gebrochen! Man kann nicht fliegen mit gebrochenen Flügeln!

Sie hatte es so sehr versucht! Was hatte sie falsch gemacht? Er hatte keine Antwort darauf gewusst, als sie ihm diese Frage stellte. In jener letzten Nacht. Eine Strophe aus ihrem Lieblingslied fiel ihr ein:

Baby I think tonight
We can take what was wrong
To make it right

Sie hatte schon geglaubt, es wäre ihnen gelungen. Sie hatten sich geliebt, in jener letzten Nacht. Es war ein leidenschaftlicher, verzweifelter Akt, der sie alles vergessen und alles erhoffen ließ! Am nächsten Morgen war er gegangen. Für immer!

And when we hear the voices sing
The book of love will open up
And let us in!

Sie würden die Stimmen nicht mehr singen hören. Nicht gemeinsam! Das Buch der Liebe öffnete sich nicht mehr. Ihre scheinbar unendliche Geschichte war zu Ende. Das Buch blieb geschlossen, während seine Seiten allmählich vergilbten und zu Staub zerfielen. Ihre Flügel wollten nicht mehr heilen!

Sie schaute hinauf. Auch heute waren sie wieder zum Greifen nah, die Sterne. Sie musste nur die Hand ausstrecken, dann konnte sie sie berühren. Es schien so leicht! Hier oben schien alles so leicht! Sie kletterte auf den schmalen Sims, schaute auf die erleuchtete Stadt. Irgendwo dort unten war er. Hatte ein neues Buch aufgeschlagen, ein neues Leben, in dem für sie kein Platz mehr war!

Eine Sternschnuppe fiel. Beschrieb einen weiten Bogen, bevor sie am Nachthimmel verglühte. Durfte man sich nicht etwas wünschen, wenn man eine Sternschnuppe sah? Warum erschien gerade jetzt vor ihren Augen diese Kaffeereklame? Diese Frau, die an einer Klippe sitzt und ihren Kaffee trinkt, als eine Sternschnuppe fällt. Ein Mann setzt sich dazu und sagt, dass sie sich etwas wünschen dürfe. „Hab ich schon!“ antwortet sie. Und weg ist er! In den Abgrund gestürzt!

Sie lachte. Leise zuerst, dann immer lauter. Bis das Lachen in ein fast hysterisches Schluchzen überging. Und zum Schluss schrie sie ihren Schmerz und ihre Wut über die Dächer der Stadt! Und plötzlich wusste sie, was sie sich bei der nächsten Sternschnuppe wünschen würde!

Ja, er ist weg! Aber sie ist noch da. Wie diese Frau, die ihren Kaffee genießt!

Sie würde auch wieder genießen! Und zwar ihr Leben! Vielleicht würde sie eines Tages auch wieder den Gesang der Stimmen hören, ein neues Buch beginnen. Aber niemals mehr würde sie sich Flügel schenken lassen. Ihr würden eigene wachsen! Geschenkte Flügel brechen so leicht!

Vorsichtig kletterte sie von dem Sims herunter und breitete die Arme aus.

And learn to fly again
And learn to live so free

© Siglinde Goertz

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