Vom Däumeling zum Bodybuilder - Wie der Hans der Starke wurde

Noch ganz verschlafen öffnete Hans die Augen und schielte vorsichtig nach rechts. Niemand da! Gott sei Dank – Eulalia war schon gegangen. Heim ins Schloss, um mit Mann und Kind zu frühstücken.

Ihm war es nur Recht! Manchmal wünschte er sich, er hätte damals die Stelle als Bodyguard ihres Mannes nicht bekommen. So hatte es angefangen zwischen ihnen. Mittlerweile war sie ziemlich anstrengend geworden. Vor allem, dass sie in der letzten Zeit immer öfter davon sprach sich scheiden zu lassen, machte ihm Angst! Um Himmels Willen, bloß das nicht. Dann hätte er sie vermutlich ständig an der Backe kleben. Das wollte er auf gar keinen Fall! Ab und zu mal ein nettes Schäferstündchen, das war ja okay. Doch mehr bitte nicht. Das neueste Modell war sie schließlich auch nicht mehr. Und für eine feste Beziehung hätte er schon gern was Jüngeres!

Glücklicherweise hatte sie im Moment genug Trouble zu Hause. Die Tochter natürlich wieder! Das müsste seine sein! Er hätte diesem Rotzblag längst ordentlich die Leviten gelesen. Die würde er schon zur Räson bringen, notfalls mit „schlagenden Argumenten“. Durfte er in Eulalias Gegenwart allerdings nicht laut sagen, sonst gab’s ’nen Mecker. Dabei könnte das dem Gör nicht schaden. Einigen anderen von diesem arroganten adeligen Gesocks übrigens auch nicht! Zur Zeit waren aber alle ganz kuschig – nachdem in der Menschenzeitung gestanden hatte, wie sich die „feinen“ Herrschaften auf ihren Bällen aufführten!

Na ja, zu derartigen Veranstaltungen wurde er eh nicht eingeladen. Es sei denn, sie brauchten einen Türsteher. Dafür war er dann gut genug. Sich stundenlang, nett verkleidet, vor dem Eingang die Beine in den Bauch zu stehen und ab und an mal zu sagen: „Du komms’ hier net rein!“ das traute man ihm gerade noch zu. Tja, hätten sie dieses Mal vielleicht nicht drauf verzichten sollen. An ihm wäre diese rothaarige Klatschtante bestimmt nicht vorbeigekommen. Selbst schuld!

Wenn er ganz ehrlich war, dann musste er schon zugeben, dass es ihn wurmte, wie er behandelt wurde. War er denn niemand? Er hatte doch auch was zu bieten! Er sah gut aus und hatte einen tollen Körper. Okay, vielleicht war das Oberstübchen nicht besonders hell erleuchtet, aber bei der Inzucht hier fiel das auch nicht weiter auf. Jedenfalls hatte er es trotzdem zu etwas gebracht. Ein eigenes Fitness-Studio, eine Bodyguard-Agentur und jetzt hatte sogar Karlchen Legerfald angefragt, ob er nicht bei seiner nächsten Modenschau modeln wollte. Na bitte!

Dabei hatte er, was hier keiner wusste, eine schwere Kindheit gehabt. Er war ein ganz mickriges Kind gewesen, kleiner als eine Parkuhr und spindeldürr. „Däumeling“ und „Daumesdick“ waren noch die harmlosesten Namen, die die anderen Kinder hinter ihm her riefen. Er wurde gehänselt, verspottet und verhauen. Seine Eltern waren auch keine Hilfe, im Gegenteil. Bei der erstbesten Gelegenheit verscherbelten sie ihn an zwei windige Gesellen, die behaupteten, Hans solle im Zirkus als Liliputaner auftreten. Ja, von wegen! Sie brauchten ihn, weil er sogar durch einen Briefschlitz passte. Einige Villen und Schlösser hatten sie auf diese Art leergeräumt. Aber wenigstens wurde er an der Beute beteiligt. Das lohnte sich schon für ihn und er konnte sich ganz schön was auf die Hohe Kante legen.

Das ging auch eine ganze Zeit lang gut, bis eines Tages seine Komplizen von den Bullen geschnappt wurden. Tja, da kam es ihm zugute, dass er so klein war. Er wurde glatt übersehen. Trotzdem hielt er es für besser, aus dieser Gegend zu verschwinden. Nur, wohin? Zu den Eltern wollte er nicht mehr. Aber was er erst Recht nicht wollte, war für den Rest seines Lebens so ein Mickerling zu bleiben. Und irgendwann hatte er mal gehört, dass in Erdals Reich eine Hexe lebte, die allerhand Wundermittelchen kannte. So war er letztendlich hier gelandet. Die Hexe war auch schnell gefunden – und siehe da: Sie konnte ihm tatsächlich ein Mittel brauen, von dem man groß und stark werden sollte. Das kostete zwar eine Kleinigkeit, aber Geld hatte er ja genug. Tja.. und sein Spiegel sagte ihm nun jeden Tag, was für einen Erfolg er damit erzielt hatte!

Schade, dass die Alte nicht mehr lebte. Er konnte immer noch nicht begreifen, warum jemand so eine Frau einfach kaltblütig umbrachte. Diese Gretel würde er gerne mal in die Finger kriegen! Der würde er schon zeigen, was man mit Mörderinnen macht! Es ging ja nicht nur um das Mittel – davon hatte die Hexe ihm einen Vorrat gebraut, der das ganze Leben reichte. Nein, sie war ihm eine mütterliche Freundin gewesen. Die einzige, zwischen all den Bekloppten hier, mit der er sich vernünftig unterhalten konnte. Manchen guten Rat hatte sie ihm gegeben, ihn unterstützt, als er sein Fitness-Studio eröffnete und ihn den Leuten als Bodyguard empfohlen. Wie oft saßen sie zusammen bei ihr am Küchentisch und tranken Kaffee. „Hänschen“ scherzte sie oft „wenn ich dich so anschaue, dann sollte ich mein Wundermittel auch im Menschenreich anbieten. Aber nur, wenn sie es nach mir benennen!“ Hans lachte dann immer. Wer würde denn ein Mittel kaufen, das „Anna Bolika“ hieß? So ein bescheuerter Name für ein Medikament! Andererseits - die Pillen waren echt gut!

Hans reckte sich noch einmal ausgiebig. Zeit zum Aufstehen! Viel Lust hatte er nicht dazu, besonders wenn er daran dachte, was ihm heute noch bevorstand. Seit einigen Wochen nämlich hatte ihn Drosselbart zu seinem „personal Trainer“ ernannt. Judo wollte er bei ihm lernen. Und Ringen! Klar, da war ja der Körperkontakt garantiert! Bei dem Gedanken daran kam ihm das Kotzen! Ständig versuchte diese Tucke ihm den Hintern zu tätscheln. Ekelisch! Na ja, dafür berechnete er ihm die Trainingsstunden zu einem besonderen Tarif. Besonders teuer!

Während er unter der Dusche stand überlegte er, ob er nicht ins Menschenreich auswandern sollte. Hier wusste man ihn ja doch nicht zu schätzen. Im Menschenreich hingegen konnte man mit vollem Bizeps und leerem Hirn sogar Filmstar werden. Oder Gouverneur! Manchmal sogar beides! Schade, dass er den Namen der rothaarigen Tussi nicht wusste. Vielleicht könnte die ihm ja ein bisschen unter die Arme greifen. Er würde einfach mal eine von Aschenputtels Brieftauben an diese Zeitung schicken, mit dem Angebot, sein Insiderwissen preiszugeben. Obwohl - das dürfte wenig Zweck haben. Es schien ja, als wüsste diese Klatschbase sowieso schon alles. Außerdem wollte er sich nicht unbedingt mit ihr anlegen. Sie sah nämlich so aus, als hätte sie Haare auf den Zähnen.

Ach, was soll's. Eigentlich ging es ihm ja ganz gut hier. Und wer will schon Gouverneur werden?!

© Siglinde Goertz

Autor:

Siglinde Goertz aus Uedem

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