Broken Wings (2)
Was hatte ihn heute hierher geführt? Nach all der Zeit? Er konnte sich selbst keine Antwort darauf geben. Es war, als hätte ihn irgend etwas hergezogen.
Er legte den Kopf in den Nacken, schirmte seine Augen mit der Hand gegen die tiefstehende Sonne ab und schaute an der Fassade des Hauses hinauf. Reglos stand er da – und starrte in die Luft.
Er hatte keine Ahnung, wie lange er so gestanden hat. Ganz versunken in den Anblick dieser schäbigen Hochhausfassade. Erst als ihn ein eiliger Passant beinahe umrannte, erwachte er wie aus einem Traum. Langsam ging er zur Haustür, sah auf die Klingelschilder. Er wusste, dass sie nicht mehr hier wohnte. Dennoch hoffte er, ihren Namen zu finden. Er suchte schon so lange nach ihr.
Wo sie wohl sein mochte? Während er darüber nachdachte, öffnete sich die Tür und jemand verließ das Gebäude. Rasch, bevor sie wieder zufiel, trat er ins Haus. Das Treppenhaus roch immer noch so wie früher. Ein wenig modrig, gemischt mit den verschiedensten Essensgerüchen. Wenn sie Hand in Hand die Treppen hinaufgelaufen waren, hatte er allerdings nur den blumigen Duft ihres Parfums in der Nase gehabt. Komisch – er hatte so vieles vergessen. Aber an diesen Duft erinnerte er sich. Auch nach so langer Zeit noch.
Er atmete ein wenig schwer, als er endlich die Tür öffnete, die auf das Dach hinausführte. Wie oft hatte er sie die letzten Stufen hier herauf getragen? Wie oft hatten sie hier oben den Abend und die halbe Nacht zugebracht? Hatten miteinander geträumt, auf die nächtliche Stadt hinabgeschaut und sich Geschichten über die Menschen hinter den erleuchteten Fenstern ausgedacht. Hatten ein Picknick gemacht, getanzt und sich geliebt. Dieses schäbige Hochhausdach war ihr Paradies gewesen.
Als wäre es gestern gewesen, sah er sie vor sich. Wie sie auf dem schmalen Sims balancierte, von seiner Hand gehalten. „Hab keine Angst“ hatte er gesagt. „Ich schenk dir Flügel.“ Und sie hatte ihm vertraut. Hatte sich nicht gefürchtet. Sie konnte ja fliegen! Mit ihm zusammen konnte sie fliegen!
Wie lange war das her? Unendlich lange, so schien es ihm. Das Paradies war kein Paradies mehr. Nur noch ein schäbiges Dach auf einem schäbigen Hochhaus.
Seine Schuld! Er hatte alles kaputt gemacht. Er hatte ihre Flügel gebrochen.
Wann hatte es angefangen, das Ende ihrer Geschichte? Er wusste es nicht mehr genau. Irgendwann hatte er die Andere getroffen. Sie war so ganz anders. Faszinierend, schön, selbstbewusst. So gar nicht verträumt. Sie bekam alles was sie wollte. Und sie wollte ihn! Er fühlte sich geschmeichelt. Sie – die jeden anderen Mann haben konnte – wollte ausgerechnet ihn.
Immer öfter war er nicht nach Hause gegangen. Wohl wissend, dass sie alleine auf das Dach ging, auf dem schmalen Sims kauerte und auf die Lichter der Stadt hinunter sah. Sie tat ihm leid, aber die Andere war stärker!
Er dachte an ihre letzte gemeinsame Nacht. Er hatte nur seine restlichen paar Kleinigkeiten abholen wollen. Sie hatte ihn traurig angesehen. Eine merkwürdige Stimmung war zwischen ihnen – und sie liebten sich ein letztes Mal. Voller Verzweiflung und Leidenschaft. Im Hintergrund spielte ihr Lieblingslied.
„Baby I think tonight
We can take what was wrong
To make it right”
Er spürte ihre Hoffnung und wusste, dass er sie enttäuschen würde. Feige war er. Am Morgen, als sie noch schlief, nahm er seine Sachen und ging. Legte den Schlüssel auf den Tisch und zog die Tür hinter sich zu. Endgültig!
Und nun saß er hier auf dem schmalen Sims. Allein! Inzwischen wurde es allmählich dunkel und nach und nach gingen in den Fenstern die Lichter an. Jedes Licht eine Geschichte! Sie hatten es geliebt, sich diese Geschichten auszudenken. Aber die Andere wollte keine Geschichten erfinden. „Was gehen mich andere Leute an. Lass mich mit diesem Kinderkram in Ruhe!“ fuhr sie ihn schroff an.
Er war verletzt, aber er ließ es sich nicht anmerken. Sie meinte es ja nicht böse. Das war halt nichts für sie. Wie auch so vieles anderes nichts für sie war. Sie hasste Picknicks. Der Gedanke auf das Dach eines Hochhauses zu steigen erschien ihr nicht romantisch sondern absurd. Wozu tanzen, wenn einem keiner dabei zusah? Und Flügel brauchte sie nicht! Wenn sie fliegen wollte, dann stieg sie in ein Flugzeug.
Was ihn anfangs so fasziniert hatte, stieß ihn mittlerweile ab. Ihr Ehrgeiz, ihre Zielstrebigkeit überforderten ihn. Sein Wunsch nach mehr Zweisamkeit langweilte sie. Sie brauchte Leute um sich herum. Verehrer, Bewunderer. Wollte Mittelpunkt sein, ihr Leben genießen. Auf die Art, die sie darunter verstand. Die mit seiner Art zu genießen nichts, aber auch gar nichts, zu tun hatte. Irgendwann begriffen sie es dann, dass sie nicht zusammengehörten. Sie warf ihm vor, der Vergangenheit nachzutrauern – und er wusste, dass sie Recht hatte. Wusste, wen er wirklich liebte. Dieses Mal ging er, als sie wach war. Legte den Schlüssel auf den Tisch und zog die Tür hinter sich zu. Endgültig!
Er lehnte sich gegen die Mauer, vergrub das Gesicht in den Händen. Alles hatte er versucht, um sie zu finden. Überall hatte er nachgefragt, wo sie sein könnte. Doch entweder wusste es keiner – oder es wollte ihm keiner sagen. Auch das konnte er verstehen. Zu sehr hatte er sie verletzt. Wie konnte er dann darauf hoffen, dass sie ihm verzieh? Es gab auch nichts zu erklären.. nichts zu reden. Was hätte er sagen sollen? Dass die Andere ein Irrtum gewesen war? Was für platte Worte!
Seufzend erhob er sich. Warf einen letzten Blick auf den dunklen Nachthimmel. Kein Stern funkelte dort oben – keine Sternschnuppe würde fallen, er hatte keinen Wunsch frei. Er musste lange hier gesessen haben – viele Lichter waren schon ausgegangen. Er würde jetzt gehen, es war Zeit. Er wandte sich um – und sah sie. Wie lange sie schon dort stand und ihn beobachtete, wusste er nicht. Er hatte sie nicht kommen hören.
Er fragte nicht danach, wieso sie hier war. Sie war einfach da - weil sie hierher gehörte. Sie gehörten beide hierher!
Er sah sie an. Sie sah immer noch so aus wie früher – und doch hatte sie sich verändert. Sie schien größer geworden zu sein. Selbstbewusster. Ihr musste man keine Flügel mehr schenken – sie hatte nun eigene. Während seine gebrochen waren! Doch in ihren Augen sah er, dass ihre Flügel stark genug waren, um auch ihn zu tragen. Er musste ihr nur Zeit geben – und das würde er tun. Alle Zeit der Welt würde er ihr geben.
Sie lächelte. Von irgendwoher erklang Musik - ganz leise, wie das Rascheln von Buchseiten.
„And when we hear the voices sing
The book of love will open up
And let us in!”
© Siglinde Goertz
Hier gehts zum 1. Teil: http://www.lokalkompass.de/uedem/leute/broken-wings-d110124.html
Autor:Siglinde Goertz aus Uedem |
8 Kommentare
Sie möchten kommentieren?
Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.