Ballgeflüster; Sehen und gesehen werden – oder: Zickenterror im Märchenland

Während unten im Ballsaal die letzten Vorbereitungen liefen, kämpfte Erdal im königlichen Schlafgemach mit seinem Hofornat. „Muss ich dieses gestickte Wams anziehen?“ brummte er in Richtung Eheweib. „Das kneift überall. Und dieser blöde Hermelinumhang ist doch viel zu warm! Ich werd schwitzen wie ein Schwein!“

„Schatz, nun stell dich nicht so an!“ Etwas japsend kamen die Worte aus Mariechens Mund. Kein Wunder, schnürte ihr doch die Zofe gerade das Mieder und die Luft wurde ihr knapp. „Nicht so fest, ich würde gern noch ein bisschen atmen!“ beschwerte sie sich bei dem Mädchen. Und zu ihrem Gatten gewandt: „Siehst du, was ich alles aushalten muss? Dagegen ist so ein Wams der reinste Jogging-Anzug!“ „Schon gut, schon gut!“ knurrte Erdal „Ich sag ja gar nix mehr. Sind denn die Mädels fertig? Die ersten Gäste werden gleich eintrudeln.“

Wie auf Kommando stürzten die beiden Schwestern ins Elternzimmer. Stolz betrachtete Erdal seine Töchter. Donnerwetter! Was für hübsche Mädels! Eben ganz die Mama. Die legte gerade letzte Hand an ihr Make-up. „Na komm, min Deern, du bist schön genug! Wir müssen runter, wenn wir nicht zu spät zu unserem eigenen Ball kommen wollen!“ Goldmariechen lachte und hakte sich bei ihm ein, als sie die breite Treppe herunterschritten.

Im Hof fuhren bereits die ersten Pferdekutschen vor. Eulalia war mit Mann und Tochter eingetroffen. Ihr Gatte diskutierte noch heftig mit dem Kutscher, bis sie ihn energisch am Arm packte und mit ins Schloss zerrte. „Was bist du nur für ein Jammerlappen!“ keifte sie. „Der Mann arbeitet schon 10 Jahre für uns und ist immer unfallfrei gefahren. Kein Grund, vor Angst zu winseln. So einen miesen Beifahrer wie dich hab ich noch nie gesehen!“ Dornröschen, die gerade aus ihrer Kutsche stieg und die ganze Szene mitbekam, grinste vor sich hin. Na, das versprach ja ein netter Abend zu werden. Viel lieber wäre sie zu Hause auf der Couch geblieben und hätte ein Nickerchen gemacht. Aber den Gefallen wollte sie Kunibert nicht tun. Glaubte der eigentlich immer noch, dass sie nichts von seinem Techtelmechtel mit Drosselbart wüsste? Sie war ja vielleicht müde – aber nicht blöd!

Nach und nach füllte sich der Saal. Dornröschen sah sich nach ihren Freundinnen um. Du meine Güte, was hatte Aschenputtel sich wieder aufgebrezelt. Wo bekam die nur immer diese hippen Klamotten her? Obwohl..... der Fummel war schon fast peinlich. Da hing ja alles raus! Und hing durfte man wörtlich nehmen. Die Gute war auch nicht mehr so taufrisch, wie sie sich einbildete. Was die für ein Glück gehabt hatte, dass der Prinz zu eitel war um eine Brille zu tragen. Sonst wär ihm mit Sicherheit aufgefallen, dass der Kammerdiener den Schuh vertauscht hatte. Musste man sich doch die Kleinkindersärge nur ansehen, die Aschenputtel heute trug. Damit konnte man Flächenbrände austreten!

Wo war denn eigentlich Schneewittchen? Da, wo’s was zu trinken gab! Klar - wo sonst? Hoffentlich betrank sie sich nicht wieder bis zum Verlust der Muttersprache, wie auf dem letzten Ball. Ganz schön peinlich, wie sie damals auf dem Tisch gesessen hatte, die große Glasbowle im Arm und immer wieder versucht hatte, in ihren „gläsernen Sarg“ zu klettern. Ihr Gatte wäre am liebsten vor Scham im Boden versunken!

Ach, da kam ja endlich Rapunzel mit ihrer Familie. Fesche Söhne hatte sie ja, das musste Dornröschen zugeben. Aber richtige Taugenichtse! Nee, nee, da war sie schon froh, dass sie keine Kinder hatte. Hatte eben auch seinen Vorteil, die fruchtbaren Jahre zu verpennen! Wenn sie etwas nicht wollte, dann sich mit pubertierenden Sprösslingen herumzuschlagen.

Oha – jetzt könnte es interessant werden. Fast gleichzeitig betraten der Fischer Joschka mit seiner neuen Flamme Martha Holle und Joschkas Ex Mathilde den Saal. Schade, die beiden Damen musterten sich gegenseitig nur giftig. So ein kleiner Damenringkampf wär doch mal eine nette kleine Abwechslung gewesen. Na, was nicht ist kann ja noch werden. Abwarten! Dornröschen würde jedenfalls die Augen offen halten (wenn es ihr auch schwer fiel). Scheinbar war sie da aber nicht die Einzige. Diese rothaarige Frau dahinten beobachte alles mit Argusaugen. Wer war das bloß? Dornröschen hatte sie noch nie hier gesehen. Na egal – gehörte bestimmt auch zu Erdals buckeliger Verwandtschaft.

„Rösschschen, meine Süsssschhe.. bissu ssssch’lange hier?? Schhhh habb dieeeschhhhh no gaaa niiiiischesehen!“ Au Backe! Das konnte ja heiter werden! Gerade war das Buffet eröffnet und Schneewittchen lallte schon. Egal – erst mal was essen.. und wenn sie nicht zu müde war, würde sie auch mal ein Tänzchen wagen. Mit Kunibert! Damit der sich auch richtig ärgerte!

Wie auf Stichwort begann die Band zu spielen. Der grauhaarige Schlagzeuger gefiel ihr. Wenn sie ja noch Lust auf Sex hätte... dann.... ach was, bei dem hatte sie eh keine Schnitte. Ob er wohl mit der Sängerin..??? Nee, die sah nicht so aus, als stünde sie auf ältere Kerle. Wie die Max und Moritz ansah! Der Sabber lief ihr ja förmlich aus dem Mund. Peinlicher ging's nicht! Aber bei den Beiden konnte sie sowieso nicht landen. Die baggerten wie wild Erdals Töchter an. Klar – Thronerbinnen waren ja auch eine gute Partie. Und im Märchenland haben schon oft genug die größten Galgenvögel die besten Frauen abgekriegt!

„Oh, nicht nur im Märchenland!“ sagte eine Stimme hinter ihr. Erschrocken drehte Dornröschen sich um. Hatte sie den letzten Satz etwa laut gesagt? „Nein, keine Sorge! Hast du nicht!“ Die unbekannte Rothaarige stand vor ihr und lächelte sie an „Ich weiß halt, was du so denkst. Deine Gedanken sind sozusagen meine Gedanken!“ Dornröschen starrte die Frau verwirrt an. Wer war das???? „Ach, Dornröschen, mach dir darüber mal keinen Kopp. Amüsier dich einfach! Der Abend hat doch grad erst angefangen. Wer ich bin, das wirst du schon früh genug erfahren.“ Sprach’s – und verschwand in der Menge.

Dornröschen sah ihr mit offenem Mund nach. Was war das denn jetzt? Ach was, sch****egal! Sie wollte jetzt Spaß haben. Und den hatte sie! Es wurde geredet, gelacht, gegessen, getrunken (und zwar nicht zu knapp!) und die Band spielte einfach geil! Selbst der König hatte mächtig einen im Tee! Um drei Uhr früh war er so bombengranatenvoll, dass er Sekt aus Aschenputtels Schuh trank. Eine ganze Flasche passte da hinein. Die Stimmung war auf dem Höhepunkt. Bis auf einmal Eulalias hysterisch kreischende Stimme durch den ganzen Saal zu hören war:

ROTKÄPPCHEN IST VERSCHWUNDEN!!! WO IST ROTKÄPPCHEN?????????????

Und wo war die rothaarige Frau? Und vor allem: Wer war sie?

Autor:

Siglinde Goertz aus Uedem

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