Anja Deufel gibt Beamtenlaufbahn auf
Tschüss Schule!

Anja Deufel verlässt zum letzten Mal ihren Arbeitsplatz am Heinrich-Heine-Gymnasium in Mettmann. | Foto: Dabitsch
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Im Klassenraum ist es still. Rote Wangen, konzentrierte Gesichter, Zirkel kratzen übers Papier: Die 7d schreibt eine Mathearbeit. Es ist eine der letzten Klassenarbeiten, die Anja Deufel schreiben lässt. Denn mit den Sommerferien quittiert sie den Schuldienst, gibt ihre sichere Beamtenlaufbahn auf.

Mehr als 20 Jahre war sie Lehrerin aus Leidenschaft. Zuletzt unterrichtete sie Englisch, Mathe und Chemie am Heinrich-Heine-Gymnasium in Mettmann. Schon länger beschäftigt sie sich mit dem Ausstieg aus dem Schuldienst. "Es geht nicht mehr", sagt die Mülheimerin, "ich ertrage das System Schule nicht mehr".

Schlaflose Nächte

Dienstags, vor ihrem "langen Mittwoch", konnte sie regelmäßig nicht schlafen. "Wegen der Erwartungen, die ich nicht erfüllen kann." Sie gibt ein Beispiel: Mittwochs hat sie einen Förderkurs Englisch geleitet, darin 25 Schüler aus drei Jahrgängen. "Wie soll hier eine individuelle Förderung gelingen?" Ein differenzierteres Angebot war aber nicht möglich, Lehrpersonal ist knapp, das Stundenkontingent des Kollegiums auch. "Wir waren auf Kante genäht", sagt Anja Deufel. Da blieb weder Zeit für individuelle Lösungen noch für tiefergehende Gespräche über private Sorgen von Kindern. Und gerade das war ihr immer wichtig. "Es kann doch nicht sein, dass mir ein Kind auffällt, weil es traurig aussieht und ich mich nicht zu fragen traue, was los ist, weil ich weiß, dass mir keine Zeit bleibt, das angemessen und einfühlsam mit ihm zu besprechen.“

Aufenthaltsbereich für die Sekundarstufe Eins. | Foto: Dabitsch
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Sanierungsstau und Renovierungsbedarf

Das Mettmanner Kollegium ist sehr engagiert, hat aber mit Sanierungsstau und Renovierungsbedarf zu kämpfen - wie sehr viele Schulen in NRW. "Wer arbeitet denn anderswo unter solchen Bedingungen?", fragt Anja Deufel und zieht eine kaputte Schublade aus dem Lehrerpult heraus. An der Decke hängt ein Beamer, die Schule wird digital. Nur die Glasfaserleitung fehlt immer noch, obwohl der Stadtteil inzwischen angeschlossen ist. In der Ecke steht - Ältere dürften es noch kennen - ein Overheadprojektor. Ob der noch zum Einsatz kommt? Vielleicht, wenn das WLAN mal wieder nicht funktioniert. "Das sind keine Voraussetzungen, um gut und mit Freude zu lernen", sagt Anja Deufel.

Sitzenbleiber neben Hochbegabtem in einer Klasse

Dazu tragen auch die heterogenen Klassen bei. Sitzenbleiber neben Hochbegabtem, Kinder mit strengen Eltern neben solchen, denen alles egal scheint. Kinder, die weder Deutsch sprechen noch überhaupt alphabetisiert sind, Kinder mit ADHS, Lese-Rechtschreibschwäche oder Förderbedarf, Altersunterschiede innerhalb einer Klasse von drei Jahren. Dass die Leistungen der Schüler immer schlechter werden, scheint da nur logisch. "Als ich die Klassenarbeit vor einigen Jahren entworfen habe, beinhaltete sie noch zwei Aufgaben mehr", erklärt mir Anja Deufel. Jetzt geht ein ungläubiges Raunen durch die Klasse, als die Lehrerin die Schüler auffordert, "langsam zum Schluss zu kommen".

"Mahte" - Gymnasium, siebte Klasse

Als sie die Hefte einsammelt, fällt mir eines auf: "Mahte" steht darauf. Gymnasium, siebte Klasse. Ein Wort, das zeigt, wie es um das Schulsystem in NRW bestellt ist. Zumal, wenn engagierte Lehrkräfte wie Anja Deufel in andere Berufe wechseln. "Ich bedaure sehr, dass so eine engagierte Kollegin mit Herz und Expertise die Schule verlässt", sagt Schulleiter Hanno Grannemann auf Anfrage.

Sie fühlte sich wie eine Nummer im System

Komplimente kennt Anja Deufel nur von ihrem Kollegium, von Seiten des Schulministeriums und der Bezirksregierung fühlte sie sich all die Jahre nicht wertgeschätzt. "Immer wieder wird uns Lehrkräften sehr deutlich gezeigt, dass wir nur eine Nummer sind", sagt Anja Deufel. Auf ihre Kündigung hat die Oberstudienrätin keine persönliche Reaktion aus Düsseldorf erhalten. In dem offiziellen Schreiben, das sie stattdessen erreichte, heißt es unter anderem: "Es kann Ihnen (...) nicht zugesichert werden, ob Sie später wieder in den Schuldienst des Landes NRW eingestellt werden können." "Solch eine Aussage bei diesem eklatanten Lehrermangel?" Anja Deufel kann sich nur wundern. Sie ist frustriert durch die fehlende Wertschätzung und das System, das sie einengt.

Sehnsucht, Menschen wirksam zu unterstützen

"Ich habe inzwischen eine tiefe Sehnsucht danach, Menschen wirksam zu unterstützen anstatt in teils absurden und immer neuen Regelungen gefangen zu sein." Und so wagt sie den Schritt in die Selbstständigkeit. Demnächst beendet sie ihr Psychologie-Studium, hat auf eigene Kosten zahlreiche Zusatzqualifikationen erworben, arbeitet als Beraterin. Die Vorfreude ist groß.

Anja Deufel kann Schule nicht mehr ertragen

Auf der anderen Seite die Kinder, die weinen, als sie ihnen von ihrem Ausstieg berichtet. Aber Anja möchte nicht mehr zusehen, wie Kinder im System steckenbleiben, weil sie zu wenig gefördert und gefordert werden, wie die Leistungen immer schlechter werden, sich Schule mehr und mehr zu einer Mangelverwaltung entwickelt und dringend benötigte Gelder fehlen. Sie kritisiert, dass die Fülle an Aufgaben immer mehr werde ("wir dokumentieren uns zu Tode") und dadurch das Kerngeschäft und die Entwicklung von Schule immer mehr in den Hintergrund rücken.
"Viele Kollegen sind frustriert", weiß Anja Deufel. Aber sie ist die Erste, die ernst macht. "Endlich!", sagt sie.

Eine der Toiletten. | Foto: Dabitsch
Der Schulhof des Heinrich-Heine-Gymnasiums in Mettmann. | Foto: Dabitsch
  • Der Schulhof des Heinrich-Heine-Gymnasiums in Mettmann.
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In der Mensa. | Foto: Dabitsch
Autor:

Miriam Dabitsch aus Velbert

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