Liedgesang – Begegnung in der Vorweihnachtszeit
Liedgesang – Begegnung in der Vorweihnachtszeit
Ich begegnete dir in einem dieser roten Backsteingebäude. Mit den kleinen Balkons und dem Stuhl vor der Tür. Wieder einmal fragte man mich, ob ich für euch singe. Eure Herzen verlangten danach.
So stand ich nun vor euch auf der kleinen Bühne. Suchte nach Worten. Ihr schautet mich nicht an. Verharrtet in Lethargie.
Ich nahm die Gitarre und sang einfach drauflos. Altbekannte Weisen. Ihr solltet euch erinnern. Gab alles, was ich konnte und doch regte sich wenig in euren Gesichtern. Das Pflegepersonal hielt mich an, doch zu pausieren. Auch für mich war der Tisch gedeckt.
Ich nahm meinen Platz ein. Man reichte mir ein Stück Torte und
heißen Kakao. Von rechts schob sich eine Hand auf die meine. Ganz leise sprachst du mit mir. „Ich danke Ihnen, Erinnerungen an eine andere Zeit, als das Herz noch frei war und der Mensch, ganz egal, welcher Konfession oder Rasse er angehörte, in der Gesellschaft seinen Platz fand.“ Ich hörte dir zu.
Als Tochter eines Kaufmannes wurdest du in Berlin geboren. Es ging euch gut, die Geschäfte florierten. Dir wurde jeder Wunsch von den Lippen abgelesen. Auch versäumte man nicht, für deine Bildung zu sorgen.
Später trugst du einen Stern auf deinem Mantel. Irgendwann kamen sie des Nachts. Wie Vieh verfrachtet, pferchte man euch auf einen Lastwagen. Über dem Tor stand in großen Lettern „Arbeit macht frei“. Du musstest deinen Arm ausstrecken. Eine Nummer wurde dir in die Haut geritzt. Deine Familie sahst du nie wieder. Du aber überlebtest den Holocaust. Verwandte im Land der unbegrenzten Möglichkeiten nahmen dich auf. Deine Muttersprache wurde dir fremd. Doch du konntest deine Geburtsstadt nicht vergessen. Kehrtest zurück in späteren Jahren. Hass kanntest du nicht. Kinder waren dir nicht vergönnt. Das Regime zerstörte deinen Uterus. Als
dein Körper Schwäche zeigte, nahm man dich auf in diesem Haus, du hättest noch so viel zu sagen...
Deine Hand löste sich und du sagtest zu mir: „So singen Sie weiter, junge Frau, ich höre so gerne die Lieder...“
Ich stand auf, nahm die Gitarre und betrat erneut die Bühne.
Das Zittern in meiner Stimme vernahm wohl niemand…
Copyright: by Sabine Fenner
Autor:Manfred Wrobel aus Mülheim an der Ruhr |
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