CDU-Herbstgespräche
Gedanken zur Lage der Nation am Tag der Deutschen Einheit

Hans-Georg von der Marwitz am Tag der Deutschen Einheit in der Alten Post. | Foto: Thomas Emons
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"Die Deutsche Einheit ist ein Glücksmoment der Geschichte, der für uns ein Auftrag ist am Zusammenhalt unserer Gesellschaft zu arbeiten!" Mit diesem Grundgedanken eröffnete die CDU-Kreisvorsitzende und Bundestagsabgeordnete, Astrid Timmermann-Fechter, die Herbstgespräche, zu denen die Mülheimer Christdemokraten am Tag der Deutschen Einheit ins städtische Kunstmuseum Alte Post einluden. Eine glückliche Hand hatten die Gastgeber mit der Wahl ihres Gastredners, Hans-Georg von der Marwitz. Der aus Süddeutschland stammende, aber seit der Wiedervereinigung in Brandenburg lebende und arbeitende Landwirt und CDU-Politiker hielt am 3. Oktober vor 70 Gästen aus allen Bereichen der Bürgerschaft folgende Rede, die am Tag der Deutschen Einheit die Herbstgespräche in der Alten Post inspirierte und anregte und die deshalb auch hier in leicht gekürzter Form dokumentarisch wiedergegeben wird.

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

mich beschäftigt momentan die Sorge um Deutschland sehr. Mir geht der Satz von Heinrich Heine aus seinem Gedicht „Nachtgedanken“ immer wieder durch den Kopf: „Denk ich an Deutschland in der Nacht dann bin ich um den Schlaf gebracht.“ 35 Jahre Wiedervereinigung haben Deutschland mit nichten stark und einig gemacht, eher im Gegenteil. Tag der deutschen Einheit. Tag der Deutschen.
Wie viel Grund hätten wir, dankbar und zuversichtlich zu sein. Doch das Gegenteil scheint der Fall.
Ein bisschen habe ich das Gefühl, wir leben wie in Grimms Märchen, „Der Fischer und sin Fru“

Die Ausgangssituation

Grundsätzlich geht es uns Deutschen so gut, wie nie zuvor in der Geschichte. Und dennoch ist die Stimmung in unserem Land auf den Tiefpunkt gesunken. Vor allem in Osten. Das hat sicher viele Gründe, aber aus meiner Sicht ist einer besonders hervorzuheben,- die Tatsache, das wir von anderen mehr erwarten, als wir selbst bereit sind zu leisten. Das muss unweigerlich ins Desaster führen. Nie hätte ich mir vorstellen können, dass in drei Bundesländern Rechtsradikale, zum Teil extrem wie weiland die Nazis, wieder in deutschen Parlamenten sitzen. Was ist schief gelaufen im Osten? Warum ticken die Ossis so anders als die Wessis? Die Bilder von Erfurt vergangener Woche waren verstörend und abstoßend. Sie machten ratlos und angewidert fragten sich viele, wie konnte es nach den Erfahrungen von Weimar wieder so weit kommen? Dazu bedarf es einer tieferen Analyse.

Die Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 fand knapp elf Monate nach dem Fall der Mauer statt.
Zu dem damaligen Zeitpunkt war die Euphorie schon ziemlich abgekühlt. Die übersteigerten Erwartungen der Ostdeutschen an den Westen waren hausgemacht. Westdeutsche Politiker, allen voran Helmut Kohl, hatten zwar ein Gefühl für das Gebot der Stunde und nutzten den Moment der Entspannung zwischen den Blöcken, aber sie erkauften sich auch die Stimmung der Ostdeutschen durch Zusagen, die unhaltbar waren. Blühende Landschaften, jedem sollte es besser gehen, einig Vaterland mit gleichen Lebensbedingungen in Ost und West. Schon wenige Monaten nach der Wiedervereinigung kam die große Katerstimmung und die Ostdeutschen erkannten, dass den Worten von Politikern wenig Glauben geschenkt werden darf. Hinzu kam die Abwicklung der DDR, die Millionen Arbeitslose schuf und den Ostdeutschen vermittelte, ihr werdet eigentlich nicht gebraucht.
Überhaupt galt nichts, was aus dem Osten kam als übernehmenswürdig, abgesehen vom grünen Rechtsabbiegerpfeil, woraus das Gefühl erwuchs, Deutscher zweiter Klasse zu sein. Das hat sich tief in die ostdeutsche Seele eingebrannt. Dabei hätte es manches gegeben, was übernehmenswert gewesen wäre. Polikliniken, Dorfschwestern, kostenlose Kindergärten und Schulspeisung, ein gut funktionierende Mülltrennungssystem genannt Sero, Sekundärrohdtofferfassung, gleiche Bildung für alle. Doch im Strudel der Ereignisse war es 1990 für die große Mehrzahl der Ostdeutschen nicht möglich, sich aktiv am Transformationsprozess zu beteiligen. Zu sehr waren sie mit der Überwindung ihrer Erfahrungen in der DDR beschäftigt.

Landsleute begegneten sich

Lassen Sie mich dazu eine kleine Geschichte erzählen,
die verdeutlicht, aus welchem politischen, gesellschaftlichen und sozialen Umfeld die Menschen der DDR kamen. Im Herbst 1988 stand an meinem Hirschgehege im Allgäu ein Ehepaar und beobachtete
unsere Hirsche und vor allem unseren Platzhirsch, der mächtig röhrend den alleinigen Anspruch
über seinen Harem demonstrierte. Sie sprachen mich auf breitem Sächsisch an, eine für mich damals sehr ungewohnter Dialekt. Sie erklärten sich mir als Frührentner, die von Familienangehörigen in Bayern zu einem Geburtstag eingeladen wurden. Ein willkommener Anlass für Bürger der DDR,
einen Besuch im Westen zu beantragen. Und dieser Besuch wurde ihnen gewährt. Die bayerische Familie lieh ihnen ein Auto, mit dem sie durch Süddeutschland fuhren. Sie waren fasziniert von den Möglichkeiten des Westens.

Aus dem Gespräch entwickelte sich ein ernsthaftes Interesse an unseren beiden Leben und so bat ich sie, doch die Nacht bei uns zu verbringen. Dieser Abend war für mich so bedeutsam, dass ich ihn heute noch fast wörtlich in Erinnerung habe. Das Ehepaar erzählte aus seinem Leben,
aus seiner Familie, aus seiner Lebenssituation und mir erschloss sich durch dieses Gespräch zum ersten Mal die Welt der DDR. Das Ehepaar verabschiedete sich am nächsten Tag, nicht ohne eine Gegeneinladung auszusprechen. Das war zur damaligen Zeit gar nicht leicht und musste letztlich von Bürgern der DDR beantragt werden. Und erst dann konnte ich nach behördlicher Genehmigung die DDR bereisen. Mir wurde genau vorgeschrieben, wie ich zu meiner Gastgeber-Familie zu reisen hätte,
wie viel Geld ich umtauschen müsste, wie lange ich in der DDR bleiben darf und welchen Grenzübergang ich zu nehmen hätte.

Reise in ein unbekanntes Land

Im April 1989 fuhr ich über ein verlängertes Wochenende dann Richtung Sachsen. Dort war mein Ziel ein kleiner Ort bei Freital. Aber nicht wie vorgeschrieben fuhr ich über die Autobahn, sondern bog schon gleich hinter Hof Richtung Plauen ab und fuhr gemütlich durch das Land, das ich kennenlernen wollte. Ich habe mir in keiner Weise was dabei gedacht. Und als ich gegen die Mittagszeit in ein kleines Dorf kam, in dem eine Gaststätte der staatlichen Handelsorganisation geöffnet hatte, wollte ich dort Mittagessen. Ich betrat den Gastraum und wurde ziemlich unwirsch vom Gastwirt empfangen. Er hätte eine geschlossene Gesellschaft und keine Zeit, sich um die Gäste zu kümmern. Ich zuckte mit den Achseln und sagte nur beim Rausgehen, ich hätte ja gerne mit Westmarkt bezahlt, aber gut, wenn das Lokal geschlossen ist, dann sehe ich mich besser im nächsten Ort nach etwas Essbarem um.

Kaum hatte ich ihm signalisiert, mit Westgeld zu bezahlen, veränderte sich augenblicklich seine Miene. Und er nötigte mich geradezu zu bleiben. Er tischte auf, was immer Küche und Keller zu bieten hatten. Ordentliche sächsische Kost wurde mir aufgetischt. Während der Mahlzeit hörte ich im Nebenzimmer eine für mich höchst merkwürdige Veranstaltung. Heute weiß ich, es war die Betriebsfeier einer LPG, einer Landwirtschaftlichen Profuktionsgenossenschaft, aber damals hatte ich keine Ahnung. Von Auszeichnung von Helden der Arbeit, vom Soll Ziel der sozialistischen Planwirtschaft und der Übererfüllung, die der Betrieb geleistet hätte, von der guten Zusammenarbeit mit der ZBO Zwischenbetriebliche Organisation und der Tierproduktion war da die Rede und immer wieder von den Segnungen des Arbeiter- und Bauernstaates. Höchst merkwürdig schien mir diese Feier, aber die Stimmung war ausgelassen und fröhlich. In den Wortbeiträgen schwang auch Stolz und Selbstbewusstsein mit.

Ich zahlte für mein Essen 5 Mark was umgerechnet 50 Ostmark entsprach, also ein Vermögen für ein Mittagessen, dass in der Karte für 3,20 Ostmark angeboten wurde. Mir war’s recht und ich hinterließ einen etwas schmierigen Wirt, der mir indirekt noch einmal begegnen sollte. Meine Reise ging dann ungestört weiter bis zu meinem Zielort bei Freital, wo mich ein vollkommen verstörtes Ehepaar empfing. Verweinte Augen bei beiden und unter Tränen erzählten sie mir die Geschichte ihrer beiden Söhne, die einige Wochen zuvor versucht hatten, die DDR illegal zu verlassen und dabei erwischt worden waren. Seitdem saßen sie im berüchtigten Gefängnis in Bautzen, im Volksmund gelbes Elend genannt und warteten auf ihre Verurteilung. Ich fühlte mich hochgradig unwohl, doch meine Gastgeber ließen es sich nicht nehmen, mich das Wochenende bei sich zu behalten. Es sollten unglaubliche vier Tage für mich werden.

Ich war damals 28 Jahre alt und im Nachgang schäme ich mich noch heute für meine Naivität, mit der ich der Familie und den Menschen begegnet bin. Unvergessen der Besuch in Freital, wo ich mir aus meinem Reiseproviant zwei Bananen in die Tasche steckte und während des Fußmarsches durch die Stadt nichts dabei denkend die Banane aß. Die arme Frau meines Gastgebers ist schier gestorben vor Scham. Mir war zwar aufgefallen, dass die Banane, die ich ihr zusteckte sofort in der Tasche verschwand, doch ich aß sie unterwegs, was alle Blicke der Menschen auf mich zog. Es brauchte noch eine ganze Weile, bis mir die unmögliche Situation gegenwärtig wurde. Und voller Scham versuchte ich die Schale unauffällig in einem Abfalleimer in einem Geschäft, in das wir gegangen waren, zu entsorgen, was mir nicht gelang, weil Frau Büttner mir die Schale aus der Hand nahm und in ihre Tasche steckte.

Als Ausländer meldepflichtig

Oder die Meldepflicht die ich als Ausländer bei der örtlichen Polizei leisten musste. Ich empfand diese Pflicht als willkürlich und war entsprechend ungehalten. Frau Büttner war mit mir zur Polizeidienststelle gefahren. Wir saßen allein in einem langen Flur an einer Tür mit einem kleinen Pult und einem Fenster, offensichtlich die Meldestelle, aber außer ein paar Stimmen und Gelächter war nichts zu hören. Nach zwanzig Minuten platzte mir schließlich der Kragen. Meine Gastgeberin beschwor mich zu warten, aber ich ging an die Tür und klopfte. Drinnen verstummten die Gespräche aber niemand forderte mich zum eintreten auf, worauf ich beherzt die Tür öffnete und ich in die Augen von drei Beamten blickte, die gerade zu frühstücken schienen. Sie waren nicht nur über meine Erscheinung verdutzt, sondern auch über meinen ziemlich scharfen Unmut, der sich angesichts der Szene am Vormittag bei mir Bahn brach. Warum man mich 20 Minuten warten ließ und überhaupt warum um 10 Uhr hier gefrühstückt wird. Das muss es wohl auch gewesen sein, warum mein frecher Auftritt folgenlos blieb und sie mir wortlos den Stempel und die Unterschrift gaben, die ich begehrte.
Meine Gastgeberin indes war vollkommen fahl und verstört und erst nach und nach erschloss sich mir die Unmöglichkeit meines Handelns. Dennoch zeigten mir meine Gastgeber Meißen und Dresden. Beide Städte in einem bedauernswerten Zustand. Vom Domplatz in Meißen überblickte ich die Altstadt und die vielen maroden Dächer, aus denen die Birken ihr frühlingshaftes Grün in den Himmel streckten. Dresden war so trostlos, das ich fast Beklemmungen bekam. Nur die Semperoper war wie eine Perle im Schutt und der Blick auf die Brühl‘schen Terrassen trotz der Tristes immer noch beeindruckend.

Erfolgreiches Leben

Meine Gastgeber gaben sich große Mühe, mir die sächsischen Schönheiten nahe zu bringen und mir viel auf, wie sehr sie ihr Land liebten, trotz aller Unzulänglichkeit. Die abendlichen Gespräche waren von großem Vertrauen geprägt und mich bewegte, wie sie einerseits unter dem sozialistischen System litten, andererseits wie sie es verstanden mit Witz und Chuzpe die verkrusteten Strukturen und die Willkür zu umgehen. Meine Gastgeber waren erfolgreich in der DDR. Der Ehemann und Vater war stellvertretender Vorsitzender einer Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft und zuhause hatte er mit seiner Familie ein florierendes Unternehmen aufgebaut. Eine große Geflügelbrüterei, Eierproduktion, Mastenten und Mastgänse. Monatlich brauchte er einen Sattelschlepper Geflügelfutter. Da er privat wirtschaftete, konnte er nicht einfach die benötigten Futtermittel bestellen. Es galt alle notwendigen Stellen in der Verwaltung und in den Kombinaten sich gefügig zu machen. Das ging nicht mit Geld, sondern nur mit Ware, gehen Ware. Büttners Währung waren 600 Gänse, die nach der Schlachtung als Zahlungsmittel dienten. Der Einfallsreichtum der Familie war kaum zu überbieten. In den Futtermitteln fehlte Eiweiß, welches durch Magerquark der nahegelegenen Molkerei ergänzt wurde. Auch das ging nur inoffiziell mit Gänsen sozusagen aufgewogen.

Der Erfolg der Familie konnte sich sehen lassen. Zwei Ladas standen auf dem Hof. Mehrere Einfamilienhäuser hatten sie für Ihre Kinder gebaut oder befanden sich im Aufbau. Auch das Baumaterial wurde organisiert und nicht gekauft. Eine Schattenwirtschaft par excellence. Wir aßen von Meißener Porzellan und tranken sächsischen Wein, der sicher auch nicht den klassischen Weg über den Handel genommen hatte. Überhaupt fehlte es im Hause Büttner an nichts, was mich schon sehr verwundert hat. Die Berichte aus der DDR klangen in Westdeutschland doch recht anders. Nun waren meine Gastgeber sicher in ihrem Tun außergewöhnliche Bürger der DDR, aber letztlich hat sich jeder auf seine Weise mit dem System mehr oder weniger arrangiert. Schwierig wurde es nur, wenn man sich mit dem Sozialismus anlegte. Meinen Gastgebern war daran nicht gelegen, weshalb sie die Republikflucht ihrer Söhne ins Mark traf. Aber nun war es so, weshalb sie versuchten, ihre Söhne von der Bundesrepublik freikaufen zu lassen. Der berühmt berüchtigte Rechtsanwalt Wolfgang Vogel war schon konsultiert worden, der sich mit Westgeld für seine Dienste bezahlen ließ. 1:10 war der damalige Kurs. Meine Gastgeber waren für sozialistische Verhältnisse vermögend, aber der Kurs ließ ihr Vermögen dahinschmelzen. Mit der Inhaftierung ihrer Söhne zerbrach ihre Welt und nun setzten sie alle Hoffnung auf den Westen. Ich war für sie zum Tor geworden, durch das wenigstens die Söhne ins gelobte Land ziehen konnten, wenn, ja wenn der Freikauf gelingen würde. So wurden Koffer gepackt, Geld getauscht um mir 3000 Mark mitzugeben, die ich für die Söhne im Allgäu anlegen sollte.

So bepackt verließ ich Blankenstein in Richtung Heimat. Doch als ich den Grenzübergang Hof erreichte, erlebte ich ein unglaubliches Desaster. Ich wurde auf eine Spur gelenkt, die in einem Überdachten Bereich endete und ich musste erleben, wie präzise die Ostdeutsche Grenzer meinen Golf und mein Gepäck zensierten. Nichts, aber auch garnichts blieb unentdeckt. Die Leibesvisite förderte dann auch die mir mitgegebenen 3000 Mark zutage, und auch die Koffer voller Kleidung für die Söhne wurden hinterfragt. Und danach wurde ich in ein winziges Büro abgeführt und wurde verhört. Bis dahin hatte ich die Fassung noch nicht verloren, im Gegenteil, insgeheim belustigte mich das Szenario. Doch in diesem kleinen Bunker offenbarte sich mir das ganze perfide System der DDR. Nachdem ich allen Fragen geschickt ausgewichen bin, riss dem Offizier die Geduld und er konfrontierte mich mit meinen Erlebnissen der letzten vier Tage, angefangen bei dem Wirt im Vogtland, bis zu meinem Besuch bei meinen Gastgebern. Da war es dann mit meiner Fassung vorbei und mich beschlich geradezu eine Panik. Schlagartig wurde mir die Situation bewusst, und meine Angst um Büttners war riesengroß, nachdem der Offizier mir zu verstehen gab, wenn ich nicht reden würde, meine Gastgeber würden sicher reden. So lenkte ich ein und versuchte so viel wie möglich auf meine Kappe zu nehmen. Irgendwann verloren sie an mir das Interesse und sie brummten mir 1600 Mark als Devisenvergehen und unerlaubtes Betreten der DDR als Strafe auf. Soweit die Geschichte.

Die Lüge hatte System

Ostdeutsche Biografien sind sicher sehr heterogen und nichts lässt sich so ohne weiteres pauschalieren, aber eins war systemimmanent, die Lüge!!
Sie war allgegenwärtig und durchzog das ganze Leben, zumindest das öffentliche nach dem Motto, es kann nicht sein was nicht sein darf. Gelogen wurde im kleinen wie im großen. In den Schulen, in den Betrieben, in der Politik sowieso und nur in dem engsten Freundes und Familienkreis konnte man ein offenes Wort wagen, und selbst dort erlebten viele, wie die nächsten Freund und Angehörige persönliche Geheimnisse verrieten.
Geradezu schizophren musste agiert werden, wollte man leidlich ungestört sein Leben leben. Ja, es gab Nischen, -die Kirchen, teilweise die Kunst, die Musik, - in denen man sich einrichten konnte, sofern man nicht gegen die sozialistische Ordnung opponierte, aber selbst bis in diese Kreise reichte der lange Arm der Stasi. Wie sollte sich in diesem System ein Urvertrauen entwickeln, -geradezu unmöglich. Mehr als 200.000 inoffizielle Mitarbeiter der Stasi gab es, die verdeckt Menschen bespitzelte und das System stützten.

Hoffnung auf ein besseres Deutschland

Mit dem Fall der Mauer am 9. November 1989 war die Drangsal vorüber, doch wer glaubte, dass jetzt neues Vertrauen, Freude und Dankbarkeit Einzug halten würde, hat sich gründlich getäuscht. Für die Ostdeutschen setzte sich die Lüge fort, nur jetzt im Gewand der sozialen Marktwirtschaft. Ostdeutsche glaubten, das mit der vollendeten Einheit die Lüge verband wäre. Doch weit gefehlt. Mit der Wiedervereinigung überschwemmte die neuen Bundesländer ganze Horden von windigen Gesellen, die wie Glücksritter ihre zweite Chance sahen und viele ahnungslose Bürger mit überflüssigen Versicherungen und Haustürgeschäften das Geld aus der Tasche zogen. Es kam ja nicht die erste Garde aus dem Westen, sondern viele, die gescheitert waren und hofften, unbehelligt von ihren Abstürzen neu beginnen zu können. Natürlich gab es auch sehr viele, die sich aktiv am Aufbau des Landes beteiligen wollten. Vor allem die jungen Berufseinsteiger die kamen, brachten viel wissen und Enthusiasmus mit. Aber viele Vorruheständler, die reaktiviert wurden, waren nicht nur ein Segen fürs Land. So weiß heute fast jeder, der sich in der Kommunalpolitik oder in den Verbänden engagiert, Geschichte über Beratungsgeschädigte in den Anfangszeiten zu berichten oder über Entscheidungen, die in Westfalen vielleicht ihre Berechtigung hatten, aber im bevölkerungsarmen Brandenburg vollkommen fehl am Platz waren. Und apropos die Lüge, da fühlen sich viele Ostdeutsche sehr an die DDR erinnert. Natürlich kann man es naiv nennen, wenn Menschen der Werbung auf den Laim gehen, oder Politikern in allem was sie sagen Glauben schenken, aber wer dem System der Lüge entronnen ist, der hoffte auf ein besseres Deutschland. Diese Hoffnungen sind schon in den ersten Monaten nach der Wiedervereinigung zerbrochen.
Und noch etwas kam hinzu, worunter die Ostdeutschen bis heute leiden, die Infragestellung ihrer Lebensleistung. Das Desinteresse und die unterstellte Undankbarkeit der Ossis, denen man es doch finanziell so leicht gemacht hätte, verletzt bis heute die ostdeutsche Seele.
Kurzum, es ist nicht verwunderlich, warum so viele Menschen hierzulande den etablierten Parteien angewidert den Rücken kehren.

Vertrauen zurückgewinnen

Es wird nicht leicht, das im großen Stil verlorene Vertrauen zurückzugewinnen. Das ist es auch, was mich sorgenvoll umtreibt und worüber ich mir den Kopf zerbreche. Derzeit haben wir niemanden in unserer politischen Landschaft, auf den die Bürger mit Achtung schauen. Ein starker und mahnender Bundespräsident wäre so eine Persönlichkeit, die ich mir wünschen würde. Weniger Parteiengezänk und mehr gemeinsames anpacken der Probleme, die allerorten offensichtlich sind. Da will ich das Thema Migration garnicht bemühen. Mir reicht schon, dass unsere Infrastruktur Straße/ Schiene, Internet, Mobilfunk nicht flächendeckend funktioniert. Unsere überbordenden Sozialausgaben nicht eingeschränkt werden, wodurch Beschäftigungsanreize entstehen könnten. Warum haben wir noch 2 Millionen Arbeitslose. Unsere Kindergärten und Schulen brauchen motivierte und zukunftsweisende, sprich zufriedene Erzieher und Lehrer. Burn out ist derzeit eine der führenden Krankheiten unserer Lehrkräfte. Es ist an der Zeit, klar zu machen, wer Rechte für sich beansprucht muss auch Pflichten akzeptieren. Eine straffere Bildungspolitik und Lehrkräfte, die sich auch durchsetzen dürfen, sind keine utopischen Forderungen. Ein Nutzungsverbot von Handys sollte in allen Schulen selbstverständlich sein. Wie wollen wir auf soziale Kompetenz setzen, wenn wir nicht in der Lage sind, sie zu vermitteln.

Wieder handlungsfähig werden

Kurzum, unser Land scheint in vielen Bereichen nicht mehr handlungsfähig zu sein. Ohnmächtig stehen viele in unserem Land im Alltag ihrer Betriebe und verzweifeln an der Unfähigkeit und an den partikularen Interessen von Verwaltung und Politik, ganz zu schweigen von der fehlenden Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen. Das führt dazu, dass kaum noch jemand in den Behörden und Ämtern seinen Ermessensspielraum voll ausschöpft. Das treibt Blühten, die niemals Früchte tragen werden. Sehenden Auges haben wir abgewirtschaftet, auf Verschleiß gelebt, Geld ausgegeben, das sich nie mehr amortisiert. Doch keiner scheint den Mut aufzubringen, jetzt einmal scharf den Rotstift anzusetzen wie das in jedem angeschlagene Unternehmen selbstverständlich ist. Es ist doch bezeichnend, dass in Polen 80 Prozent der ukrainischen Flüchtlinge in Lohn und Brot sind. Bei uns sind es gerade einmal 20 Prozent. Unsere Sozialausgaben müssen neu justiert werden. All diese Probleme sieht jeder von uns tagtäglich in seinem persönlichen Umfeld. Nur die Politiker scheinen die Bodenhaftung verloren zu haben. Das ist es, was die Menschen zur Verzweiflung bringt und was sie veranlasst, sich nach Alternativen umzuschauen. Der Westen unseres Landes hat da sicher in Fragen der Demokratie die längere Erfahrung und die Menschen dort gehen den schnellen Lösungsvorschlägen der Radikalen nicht so schnell auf den Laim. Aber im Osten haben die Menschen seit der Wiedervereinigung wenig Vertrauen in die Parlamentarische Demokratie aufbauen können und nun fühlen sie sich in ihrer Einschätzung über unfähige Politik bestätigt. Das Internet ist voll von diesen Verschwörungstheorien.

Geschichte nicht aufgearbeitet

Und noch eins kommt hinzu. Die Aufarbeitung des Nazionalsozialismus fand nur im Westen statt. Im Osten galt der Grundsatz, bei uns gibt es keine Faschisten und Nazis mehr, die leben jetzt alle im Westen. Die Schreckensbilder von Ausschwitz haben keinen Einzug ins Unterbewusstsein der Ostdeutschen gehalten, was dazu führt, unbekümmerter sein Kreuz bei radikalen rechten Parteien zu machen. Vielleicht nicht unbedingt, weil sie glauben, das diese es richten könnten, sondern viel mehr, um dem politischen Establishment eins auszuwischen. Welche Gefahren davon ausgehen, ist den Meisten nicht bewusst. Was folgt daraus?

Was ist zu tun?

Hermann Hesse hat es einmal so formuliert: „Wir müssen nicht hinten beginnen bei den Regierungsformen und politischen Methoden, sondern wir müssen vorn anfangen, beim Bau der Persönlichkeit, wenn wir wieder Geister und Männer haben wollen, die uns Zukunft verbürgen.“

Nun lässt sich der Persönlichkeitsaufbau nicht in einer Hau Ruck Aktion durchsetzen. Es bedarf eines langen Atems und setzt den guten Willen vieler Akteure voraus.
Aber wir könnten hoch wirksam agieren, in dem wir parteiübergreifend die Probleme erfassen und gemeinsam Lösungswege ausarbeiten. Besonders unpopuläre Entscheidungen, und das sind meines Erachtens einige, bedürfen einer Erklärung und einer Gemeinsamkeit. Zuhören und ernst nehmen, gefolgt von zeitnaher Umsetzung der Lösungspläne ist die beste vertrauensbildende Maßnahme. Wir Deutschen können an sich gut mit schwierigen Situationen fertig werden, wenn sie offensichtlich vor uns liegen und mit vernünftigen Entscheidungen der Politik und Verwaltung flankiert werden. Trauen wir doch unseren Bürgern ruhig mehr zu. Klarheit und Wahrheit erklären sich meist von selbst und bedürfen keiner Interpretation im Gegensatz zur Schönfärberei und Vertuschung.
Und nun doch noch ein Wort zur Migration, weil es uns allen, besonders den Ostdeutschen auf der Seele brennt und weil die AFD durch die Flüchtlingsströme und unsere Unfähigkeit der Kanalisation und Integration dieser Ströme groß geworden ist.

Dass wir auf Grund unserer Geschichte und unserer Verfassung Flüchtlingen Aufnahme gewähren, bedarf keiner Erklärung. Nur muss sichergestellt werden, dass es sich um Verfolgte handelt und das ist bei dem massenhaften Zustrom ausgesprochen schwierig. Ein kleines Beispiel aus dem Landkreis Märkisch Oderland. Derzeit haben wir hier 400 anerkannte Flüchtlinge, und rund 350 die abgeschoben werden müssten, aber nicht abgeschoben werden können, weil es mit den entsprechenden Ländern keine Rüchführungsabkommen gibt.
Was machen wir jetzt? Internieren wir diese Menschen? Wohl kaum!
Es bleibt uns nur eine europäische Lösung und die gilt es zu erklären. Übrigens bekommen in unserem Landkreis die nicht anerkannten Flüchtlinge kein Bargeld, sondern nur eine Chipkarte mit einem Betrag, den sie in bestimmten Geschäften für Naturalien einlösen können.

Erbe und Auftrag

35 Jahre Wiedervereinigung unseres Landes ist trotz allem ein großes Geschenk. Der 9.11. war eine Sternstunde in der Geschichte unseres Landes. Lassen wir nicht zu, dass die extremen Kräfte zerstören, was Generationen aufgebaut haben. Demokratie ist eine zarte Pflanze, die gepflegt und gehegt werden muss. Sie braucht treusorgende Gärtner, die sie von faulem Holz und Wassertrieben befreit, damit sie gesund wachsen und viel Frucht bringen kann. Wir haben viel zu verlieren, drum packen wir’s an und stützen und fördern, was uns lieb und teuer ist: „Einigkeit und Recht und Freiheit
für das deutsche Vaterland! Danach lasst uns alle streben, brüderlich mit Herz und Hand!
Einigkeit und Recht und Freiheit sind des Glückes Unterpfand: Blüh im Glanze dieses Glückes,
blühe, deutsches Vaterland!“ Danke für Ihre Aufmerksamkeit.

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Hans-Georg von der Marwitz (4.v.l.) nach seiner Rede im Kunstmuseum Alte Post im Kreise seiner christdemokratischen Gastgeber (v.l.): Stadtrat Heiko Hendricks, Oberbürgermeister Marc Buchholz, CDU-Chefin Astrid Timmermann-Fechter, CDU-Fraktionschefin Christina Küsters, Bürgermeister Markus Püllund Stadtrat Patrick Helmchen. | Foto: Thomas Emons
Autor:

Thomas Emons aus Mülheim an der Ruhr

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