Inklusion und Barrierefreiheit
Auf dieser gesellschaftlichen Baustelle gibt es noch viel zu tun
"Wie inklusiv ist Mülheim und wie inklusiv ist Europa und wie inklusiv muss die Europäische Union, in der zurzeit 100 Millionen Menschen mit Behinderung leben, inklusive Mülheim, noch werden?"
Darüber diskutierten am Europatag, dem 5. Mai, die Vorsitzende des Blinden und Sehbehindertenvereins, Maria ST. Mont, ihre Stellvertreterin, Nicole Schmidt-Siegfried, der Vorsitzende des Vereins für Bewegungsförderung und Gesundheitssport, Alfred Beyer und die selbst körperbehinderte stellvertretende Vorsitzende des Sozialausschusses im Europäischen Parlament, Katrin Langensiepen bei einer Veranstaltung, zu der die Mülheimer Grünen ins Nachbarschaftshaus der Mülheimer Wohnungsbaugenossenschaft an der Hingbergstraße in Heißen eingeladen hatten.
Viele Baustellen
"Wo da anfangen?", fragten Maria ST Mont und Alfred Beyer, als sie von den Moderatoren Melsa Yildrim und Philipp Hoffmann nach ihren Wünschen in Sachen Barrierefreiheit gefragt wurden. Beyer verwies auf die 1992 von der Mülheimer AGB entwickelte und heute bundesweit genutzte Checkliste für barrierefreies Bauen, die leider immer noch nicht von allen Architekten beachtet werde. Beyer plädierte in diesem Zusammenhang dafür, dass das Wissen um barrierefreies Bauen, auch mit Blick auf dem demografischen Wandel unserer Gesellschaft, zum Pflichtinhalt der Architektenausbildung werden müsse.
Mit Blick auf die Ruhrbahn begrüßte ST Mont aber, dass das lokal Verkehrsunternehmen seinen offenen Arbeitskreis Öffentlicher Personennahverkehr wiederbelebt habe. Allerdings, so ST Mont, würde sie es noch mehr begrüßen, wenn die Ruhrbahn auf einen zweiten Geschäftsführer zugunsten der Einstellung von neuen Bus- und Bahnfahrern, verzichten würde. Außerdem kritisierte sie die überlangen Arbeitskämpfe im öffentlichen Personennahverkehr. Davon, so ST Mont seien vor allem Menschen mit Behinderung in Mitleidenschaft gezogen worden, "die nicht mal eben aufs Fahrrad oder ins Auto steigen können."
Nicht behindert, sondern benachteiligt
Beyer und ST Mont waren sich einig: „Wir sind nicht behindert. Wir werden durch die Gesellschaft benachteiligt. Beyer verwies, auf die von der Mülheimer AGB 1992 entwickelte und inzwischen in ganz Deutschland genutzte Cheackliste für barrierefreies Bauen, die leider immer noch nicht von allen Architekten beherzigt werde. Rampen, Induktionsschleifen, Gebärdendolmeterscher, taktile Leitlinien, Aufzüge, rollstuhlkompatible Türen, auch für Sehbehinderte und für Menschen mit kognitiven Einschränkungen lesbare und verständliche Hinweise und Infotafeln sind nur einige Mittel der Wahl, wenn es um Inklusion im öffentlichen Raum geht.
ST-Mons machte am Beispiel der abgesenkten Bürgersteige deutlich, dass der Teufel auch bei der Barrierefreiheit im Detail steckt: „Was für die Rollstuhl- und Rollatorfahrer von Vorteil ist, kann für Blinde und Sehbehinderte lebensgefährlich werden.“ In der Beharrlichkeit sieht die Vorsitzende des seit 1921 aktiven Blinden- und Sehbehindertenvereins die wichtigste Fähigkeit, die Menschen mit Handicap trainieren müssen, um zu ihrem Recht zu kommen. Ärgerlich findet es ST Mont, dass es blinde Menschen erheblich schwerer haben, einen Pflegegrat zu bekommen als etwa demenzkranke Menschen.
AGB hat sich bewährt
Die beiden Moderatoren von den Jungen Grünen wollten von den Vertreterinnen und Vertretern der Arbeitsgemeinschaft der Behinderten-Selbsthilfe und chronisch Kranker (AGB )auch wissen, ob es aus ihrer Sicht sinnvoll sei, die AGB in einen Inklusionsratsausschuss umzuwandeln. Aus Sicht von Beyer und ST Mont hat sich aber die in Mülheim 1996 bewusst gewählte Option der AGB bewährt. Beide räumten bei aller Kritik im Detail ein, dass die Sensibilisierung für die Belange von Menschen mit Behinderung innerhalb der Stadtverwaltung in den letzten Jahren deutlich zugenommen habe.
Katrin Langensiepen ließ ihre Sympathie für einen parlamentarischen Inklusionsausschuss durchblicken, stellte aber diplomatisch fest: "Entscheidend ist, dassein solches Gremium auch Zähne hat, um Forderungen durchzusetzen."
Mehr Solidarität
Neben der Solidarität aller Menschen mit Behinderung sieht es Langenspiepen gesellschaftspolitisch als entscheidend an, dass Menschen mit Behinderung mehr als bisher in Machtpositionen, etwa in Parlamenten und Verwaltungen, vordringen, um in Schlüsselpositionen den Abbau von Barrieren durchzusetzen. "Wir haben kein Erkenntnisproblem. Wir haben aber einen akuten Handlungsbedarf", unterstrich Langensiepen.
Mit Blick auf Europäische Union sieht die Grüne Parlamentarierin unterschiedliche Geschwindigkeiten in der Inklusion. Am rückständigsten sind aus ihrer Sicht Ungarn und Polen. Italien und Spanien sieht sie als Vorreiter in der schulischen und beruflichen Inklusion, während die skandinavischen Staaten bei den Sozialleistungen und die baltischen Staaten in Sachen Digitalisierung die Nase vorn hätten.
Die in Deutschland betriebenen Förderschulen, Wohneinrichtungen und Werkstätten für behinderte Menschen sieht die Europapolitikerin aus Hannover als überholt an, weil diese Einrichtungen einem selbstbestimmten Leben behinderter Menschen in einer inklusiven Gesellschaft zuwiderlaufen.
Europäischer Schwerbehindertenausweis
Positiv beurteilt sie, dass das Europäische Parlament in der zu Ende gehenden Legislaturperiode den EU-Schwerbehindertenausweis auf den Weg gebracht hat. Er soll nach dem Vorbild des deutschen Schwerbehindertenausweises Menschen in allen EU-Ländern freie Fahrt in öffentlichen Verkehrsmitteln gewähren. Anders, als die deutsche Variante, soll der Schwerbehindertenausweis der EU kostenfrei zu bekommen sein und nicht nur für den öffentlichen Personennahverkehr und den regionalen Bahnverkehr, sondern auch für den ICE-Fernverkehr gelten. Langensiepen ließ keinen Zweifel daran, dass sie sich einen Ausbau des neuen EU-Schwerbehindertenausweises wünscht. Mit Blick auf den öffentlichen Personennahverkehr, auf den behinderten Menschen in besonderer Weise angewiesen sind, drängt das Europäische Parlament, laut Langensiepen, auf eine Richtlinie, die die Eisenbahngesellschaften wie die Deutsche Bahn zur Mitnahmepflicht für behinderte Passagiere zwingt. "Es reicht mir nicht, wenn die Deutsche Bahn erklärt: Wir erstatten Ihnen den Fahrpreis, weil sie nicht in der Lage war, einen Rollstuhlfahrer oder einen Rollatorfahrer barrierearm von A nach B zu bringen."
Mit Blick auf den Schwerbehindertenausweis, der hier zu Lande 90€ kostet und im Gegenzug freie Fahrt im öffentlichen Personennahverkehr und im regionalen Bahnverkehr sowie Steuererleichterungen und privilegierte Parkmöglichkeiten mit sich bringt, wies Alfred Beyer daraufhin, dass das Sozialamt in Essen auch für die Mülheimer Antragsteller zuständig sei, die einen Schwerbehindertenausweis beantragen oder ihn verlängern wollen.
Dass die Bereitschaft zur Inklusion auf dem ersten Arbeitsmarkt noch deutlich zunehmen muss, machte die stellvertretende Vorsitzende des Blinden- und Sehbehindertenvereins, Nicole Schmidt-Siegfried deutlich: "Viele Menschen mit Handicap haben Probleme damit zu ihrer Behinderung zu stehen, weil sie befürchten, von ihren Arbeitgebern aussortiert zu werden, auch wenn sie qualifiziert sind und gute Arbeit leisten.
Keine Taxi-Zuschläge
Ein Mann aus dem Publikum empfahl den Grünen, sich dafür einzusetzen, dass Rollstuhlfahrer und Rollatorfahrer in Mülheim keinen Aufschlag mehr in Höhe von 5€ bezahlen müssen, wenn sie ein rollstuhlgerechtes Taxi bestellen. Und mit Blick auf das nicht nur für Sehbehinderte ärgerliche Kleingedruckte im amtlichen Schriftverkehr wies die Vorsitzende des Blinden- und Sehbehindertenvereins, Maria ST Mont daraufhin, dass die 2006 verabschiedete und 2009 von Deutschland ratifizierte Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen die öffentliche Verwaltung dazu verpflichte, ihre Schreiben, auf Nachfrage, in einer sehbehindertenfreundlichen Schrift zu versenden. Darüber hinaus gebe es für blinde und sehbehinderte Menschen die Möglichkeit, bei den bevorstehenden Europawahlen am 9. Juni Wahlschablonen zu nutzen, um ihre Stimme barrierefrei abgeben zu können.
Das Wahlrecht nutzen
In diesem Zusammenhang waren sich ST Mont und Langensiepen einig, dass behinderte Menschen ein besonders ausgeprägtes Interesse daran haben sollten, im Sinne ihrer Belange, bei den Europawahlen ihre Stimme für Parteien abzugeben, die für eine barrierefreie und tolerante Gesellschaft eintreten. Ausdrücklich begrüße es die Europaabgeordnete, dass auch Menschen mit geistiger Behinderung inzwischen nicht mehr vom Wahlrecht ausgeschlossen werden können. Allerdings sieht sie noch Nachholbedarf bei der barrierefreien und flächendeckenden Information der Wählerinnen und Wähler mit einer geistigen Behinderung.
Autor:Thomas Emons aus Mülheim an der Ruhr |
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