Der Neunzigjährige, der nachts auf der Fahne saß
"Schwäster, bitte Fahne!"
Meine Geschichte mag etwas lieblos klingen, sie ist aber die pure Wahrheit. Und ich als Geschädigter muss nicht unbedingt sein hohes Alter, seine zwei Treppenstürze, den Schlaganfall und die aktuelle Bandscheibenoperation gegen mein legitimes Bedürfnis aufrechnen. Der Einrichtung, von der wir beide abhängig waren, wäre da schon eher ein Vorwurf zu machen.
Strengstes Flachliegen war meinem Bettnachbarn verordnet worden, was er auch überwiegend beachtete. Für das kleine Geschäft sorgte eine geräuschlose Direktleitung zum Bettbeutel. Für das größere drückte der Betagte nachts auf Schwester Karin. Sobald sie sich in das nachtdunkle Zweibettzimmer hinein krächzend meldete, rief er: „Schwääster, Fahne!“ – Knacks: „Bitte?“ – „Bettfanne!“ Und schon nach wenigen 30 Minuten kam eine der zahlreichen Erscheinungen von Schwester Karin – gerne auch als Mann - vorbei, schob ihm was unter, sich das Handy ans Ohr und telefonierend ab. Ich jetzt knallwach. In dem sich öffnenden Zeitfenster hätte man trotz einiger windiger Geräusche einschlafen können, wenn nicht bei der anschließenden Entsorgung („Schwääster färtig!“) das gongartigen Geräusch des zuschlagenden Blech-Treteimers gewesen wäre: Dies läutete dem geübten Fahnensitzernachbarn eine knappe Stunde fahnengeschäftsfreie Nachtruhe ein.
Dann aber hob es in genau der gleicher Weise wieder an: „Schwääster, Fahne!“ Diese Fahnenparaden dehnten sich einschließlich Fehlversuchen meist über die ganze Nacht aus. Ein erholsamer Nachtschlaf war dem zumindest akustisch den Fahnenschwenkereien brutal Ausgesetzten auch dann nicht beschieden, als das Aufstehverbot für den Neunzigjährigen aufgehoben wurde. Es verwandelte sich dann einerseits in das Gleichgewicht suchende stündliche Rütteln am Fußgeländer meines Bettes, das unglücklicherweise nahe dem Toiletteneingang stand, und andererseits in die klappernde Klo-Schüssel-Sitzung in der gemeinsam gemieteten Nasszelle.
„Haben Sie gut geschlafen?“ Die erste Frage des medizinischen Messtrupps am Morgen wirkte auf mich zynisch, war aber sicher nett gemeint.
Nach einer solchen Nacht sahen wir dann beim Frühstück gemeinsam die Sendung „Alpenpanorama“, die uns die Frühstücksdirektorin freundlich und arglos anstellte.
Nein, er sei früher oft in den Wintersport gefahren, sagte er nur, als ich anbot, die Echtzeit-Alpen abzuschalten. Sonst redete er nicht viel, von selbst schon gar nicht. Wenn ich mich, von einer Untersuchung kommend, über die Ärzte lustig machte, huschte ein Lächeln über sein blasses Gesicht.
Im Übrigen drehte sich unsere Konversation meist um die Frage, ob das Fenster auf oder zu bleiben sollte.
Dann erlebte ich die schlimmste Nacht mit ihm! Und die ganz ohne Fahne.
„Aua“ schrie der Neunzigjährige, und immer wieder „Ahh“ und „Aua“. Plötzlich hatte er am Nachmittag starke Schmerzen bekommen und trotz dickster Schmerztabletten wurden seine Schreie von Stunde zu Stunde lauter. Auch eine Spritze brachte keine Erleichterung, obwohl ein Pfleger vom Schwesternorden Karin meinte, davon würde selbst ein Pferd umfallen. Nein, seine Aua-Schreie, die mitternachts durch den ganzen Komfort-Trakt schallten, ließen wohl eher bei den anderen Patienten die Gäule durchgehen. Sofort wollte ich verlegt werden, bekam aber ersatzweise nur Ohrstöpsel.
Bis eine kundige Ärztin, sie war gegen drei herbeigeeilt worden, feststellte, dass er die Koordinaten der Schmerzstelle auf seinem Rücken fehlerhaft angegeben hatte, er habe nämlich Nierenschmerzen. Ein Aufatmen machte sich breit. Aber trotz aller nierenbezogenen Gegenmaßnahmen retteten sich die Schmerzensschreie bis in den Tagesanbruch.
Ach, wie sehnte ich mich in diesem doppelten Morgengrauen nach den besinnlichen Nächten der fünf Bettfahnen zurück. Da war es nur eine einzige männliche oder weibliche Nachtschwester, die ihm stuhlgangmäßig assistierte. Nun aber pilgerten Scharen von Weißkitteln durch unser Zimmer, würdigten mich keines Blickes, obwohl ich mindestens 50% der Belegung ausmachte. Aber ich machte halt den schier unverzeihlichen Fehler, als Schlafentzugsgeschädigter nicht in laute Aua-Schreie auszubrechen.
Autor:Franz Bertram Firla aus Mülheim an der Ruhr |
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