Aus den Ostruhranlagen (heute Stadthafen)
PS zu den Geschichten vom Penner Erwin Weiss*

Foto: Stadtarchiv
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*Nein, nicht der Schalke-Sänger und nicht der österreichische Komponist

Ein paar Jahre nachdem ich die Geschichten mit Penner Erwin* (2015 in fiftyfifty, Lokalkompaß, NRZ berichtete) niedergeschrieben hatte, fand ich auf dem Spitzboden unserer Garage bei Aufräumarbeiten das alte Diktiergerät, das ich oft mit in die Ostruhranlagen(ORA) genommen hatte. Es lag noch so eine winzige Cassette drin. Die Batterien waren allerdings stark aufgequollen und die Metall-Halterungen teils weggerostet. Es gelang mir aber mit viel Geduld, alles notdürftig zusammenflicken und mit frischen Batterien wieder zum Laufen bringen. 20 Minuten Gespräche waren darauf, aber kaum zu verstehen. Erst nach Überspielung und Digitalisierung mit anschließender Verstärkung erkannte ich zweifelsfrei Erwins Stimme, die erzählte, dass er gerade aus der Altstadt komme. Dort habe man ein Lied gesungen, das er schon mal in Elberfeld gehört habe und dann seien Bonbons geflogen für die Kinder, auch er habe sich gebückt. Demnach muss es um den 10. November herum gewesen sein: Chrubbel-Chrabbel der „Mausefalle“. Jetzt wusste ich es auch wieder: Erwin hat damals mein Interesse geweckt, mich mit diesem „Ssinter-Mätes-Vögelsche-Lied näher zu befassen. Denn was es mit dem ominösen Martinsvögelchen auf sich hat und wo das Lied herkommt, was dieses Platt bedeutet, und warum es auch in Wuppertal gesungen wird, das wollte ich doch als St. Martinfan aus Bonner Kindertagen gerne einmal für meine Wahlheimat Mülheim in Erfahrung bringen. Der ORA-Philosoph breitete im weiteren Verlauf des Gesprächs aber seine aphoristisch klingenden Weisheiten aus.
Ich muss ihn wohl nach seinem Geburtstag gefragt haben, denn er setzt plötzlich ein mit „hab ich vergessen“. Es sei auch nicht so wichtig und er wüsste sowieso nicht, wer unter seinem Namen geboren wurde, „ich kann es nicht gewesen sein, weil mein ich noch gar nicht vorhanden war.“ Ich höre mich da lachen und Erwin wiederholte in mein Gelächter hinein immer „n’est-ce pas, n‘est-ce pas?“
Dann entschuldigte er aber seinen Vorgeborenen, der er selbst noch nicht war: „Als die Welt seinen ersten Ton vernahm, da war die deutsche Sprache schon fertig. Es blieb für ihn sprachlich nichts mehr zu tun, also lallte er.“
Auch zog er aus seinen täglichen Unannehmlichkeiten als Obdachloser so manche Verallgemeinerung: „Wer sich nach dem Zudecken noch bewegt, dem zieht’s andauernd an irgendeiner Ecke“ ist er zu hören, gleich nach solchen markanten Sätzen wie „Wenn Marc Aurel mahnt, an das große Ganze zu denken, neben dem das kleine einzelne Leben eine Einbildung sei, dann werden wir bescheiden, nehmen uns weniger wichtig und sind zufriedener mit unserer kleinen Rolle.“
Dann wieder was Komisches: „Hitler konnte heilfroh sein,…“ Ich fiel ihm ins Wort: „Ja, das weiß man ja,…Da mussten wir beide lachen. Einmal meinte er schlitzohrig, dass Kain seinen Bruder erschlug, sei ein „Abelglaube“.
Er fand, man habe die Welt schlecht auf ihn, Erwin, vorbereitet und er verstehe viele Begriffe nicht, und wenn er sie dann verstanden habe, verstehe er nicht, wofür man das braucht. Was er aber sehe, ist, dass man mehr die Begriffe braucht als das, wofür sie stehen.
Und ein wenig später „Gedanken sind wie Rauch ohne Schall. Ich rauche jetzt mal wieder eine Packung Gedanken.“
Zwischendurch hört man Leute (Penner, Jugendliche?) rufen und gegen einen Ball treten. Dann gibt es eine Pause, in der nur der Verkehr rauscht. Dann sprachen wir über den Tod.
Ob er sich denn keine Gedanken gemacht habe, was nach dem Tod sein würde, fragte ich ihn, und ob er glaube, dass man wiedergeboren würde.
Darauf sagte Erwin etwas, das ich Jahrzehnte später in einem Buch von Piet Klocke ähnlich wiederfand: „Ich bin schon dreimal wiedergeboren worden, ich kann aber keinen Unterschied finden.“
Nach etwas Gelächter wurde er aber wieder ernst. „Das Schönste, wenn man tot ist, wird die Zufriedenheit darüber sein, dass man nichts vermisst, noch nicht mal …“
Hier bricht die Unterhaltung ab.

Foto: Stadtarchiv
Foto: fiftyfifty
Autor:

Franz Bertram Firla aus Mülheim an der Ruhr

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