Erinnerungen
Mein Opa Franz (1900 -1962)
Mein Großvater Franz war eine Ecke von einem Mann, weder mein Vater noch ich erreichten seine wuchtige Statur. Er hatte eine raue Stimme und einen ebensolchen Stoppelbart, den er zu gerne vor dem Rasieren durch mein rosiges Kindergesicht rieb und sich an den Hilfeschreien ergötzte.
Nach der Rasur vor einem kleinen Spiegel auf dem Wohnzimmertisch musste ich dann fühlen, wie glatt sein Kinn geworden war. Er bewohnte mit seiner zweiten Frau Anna Brinkmann und seiner ersten Schwiegermutter (Vaters Mutter war früh gestorben) ein Häuschen in einer typischen Bergmannssiedlung in Hamborn-Neumühl, einem Duisburger Stadtteil. Im Anbau befanden sich Küche mit anfangs Plumpsklosett und ein Vorratsraum. Drumherum ein Garten. Die Laube mit angrenzendem Kohlenschuppen lagen direkt gegenüber dem seitlichen Hauseingang. Opa ließ gerne seine ihm zustehende Fuhre Bruchkohle in den Ferien, wenn ich und später auch mein Bruder Siggi zu Besuch waren, vor das Haus werfen. Da konnten wir dann nach Herzenslust Bergmann spielen, die schwarzen Felsbrocken mit dicken Hämmern zertrümmern und mit Karren und Eimern in den offenen Schuppen einfahren. Er war an Staublunge erkrankt und schon vor seinem 50zigsten Lebensjahr Frührentner geworden.
In der Laube, die sehr nach Grubenholz roch und selbstverständlich von uns farblich mehrfach "überholt" wurde, saßen wir beim Mittagessen. Abends dagegen an einem kleinen Tisch am hinteren Ende des Gartens, in dem es immer Mohn gab. Er hatte sich einen kleinen Feldstecher zugelegt, mit dem er uns einige Planeten zeigte. Nicht dass er besonders viel über Astronomie wusste, aber er brachte uns etwas viel Wichtigeres bei, nämlich das Staunen über den Sternenhimmel. Im Hof hinter dem Haus, den jeweils zwei miteinander verbundene Häuser sich teilten, fanden meine legendären Fußballspiele statt, in denen ich unter großer Anteilnahme der ostpreußischen Nachbarn sämtliche Spieler der beiden gegnerischen Mannschaften mimte und gleichzeitig das Spiel als Radioreporter übertrug. Dazu wird mich der totospielende Großvater und die Weltmeisterschaft 1954 animiert haben. Und dann waren da die Hunde Stroppi und später Mohrle, typische Ruhrgebietsmischlinge. Ich durfte sie am Emscher-Kanal ausführen. Mohrles Andenken weckt alte Gewissensbissen. Hatte ich ihn doch durch einen unglücklichen Steinwurf am Auge verletzt. Ich erwartete damals, dass Opa Franz mich dafür halb totschlagen würde. Er tat es nicht. Es reichte auch schon, wenn er sein "Kampfgesicht" aufsetzte, schwer atmend den riesigen Brustkasten dehnte und langsam seinen Ledergürtel aus den Schlaufen gleiten ließ. Das war schon so, als ich nicht aufhören wollte zu humpeln, nachdem man mir in einem Hamborner Krankenhaus an der Wade irgendein Geschwür entfernt hatte. Er war ein ausgesprochener Reha-Experte und Spezialist für die Erlernung des aufrechten Ganges. Dazu benötigte er lediglich eine altes Stuhlbein, das er mir zwischen zurückgenommen Oberarmen und Rücken klemmte. Solcherart aufgerichtet hatte ich im Wohnzimmer unter seiner Aufsicht tägliche Trainingseinheiten abzuleisten. Ich liebte ihn trotzdem. Einmal so wie Opa früher in die Grube einfahren, das wär's gewesen. Es hätte nicht viel gefehlt, und dieser Wunsch wäre in Erfüllung gegangen. Ein befreundeter jüngerer Steiger bot sich an. Nachdem Opa bei der Besprechung der Angelegenheit die von diesem netten Kumpel mitgebrachte Flasche Wacholder geleert hatte, kamen ihm wohl Zweifel an meiner Sicherheit. Es nützte nichts, dass der Gast inständig beteuerte, er würde schon Sorge tragen, dass mir nichts passiert. Ich hörte plötzlich einen überlauten Wortwechsel und ein Zuschlagen der Haustür. Opa hatte ihn kurzerhand hinausgeschmissen. Spontaner Gesinnungswandel war geradezu seine Spezialität. Dabei sollen etliche Fenster und Türen zu Bruch gegangen sein, weil er nicht immer bereit war, sie vor dem Rausschmiss erst noch zu öffnen.
Eine große Ausnahme war Onkel Heini (Er und seine Frau Tante Käthe waren nicht mit uns verwandt). Er sah aus wie ein Bruder von Peter Frankenfeld, was aber auch daran liegen kann, dass ich beide zur gleichen Zeit kennenlernte, und sprach im Gegensatz zu diesem überaus undeutlich. Ich bilde mir ein, dass sich das nach einigen Pinneken Wacholder gab. Er durfte sich so ziemlich alles erlauben, was er aber leider nicht tat, weil er Opas Lebensretter war. Bei der Geschichte schmerzen jedesmal meine Fingernägel wie die von Onkel Heini, als er Opa damals aus dem Geröll kratzte, das ihn bis zum Hals begraben hatte. Alle anderen sogenannten Kumpels waren auf und davon, weil neue Einstürze zu befürchten waren. Auf einem Foto mit schwarzgesichtigen Kollegen ragte Opa, obwohl er ziemlich schief stand, eindeutig als Kräftigster heraus. Wenn er dieses Bild ansah, sagte er immer: "Ich schäme mich, dass ich noch lebe!" Oma erklärte dann dem verwirrten kleinen Enkel Franz, dass fast alle schon auf verschiedene Weisen den Tod gefunden hätten.
Selbstredend wurde Opa früher gerne zu Umzügen eingeladen. Ich meine jetzt Wohnungswechsel. Selbst die großen gusseisernen Herde schien er im Alleingang versetzt zu haben.
Aber er war auch musikalisch. So rau wie sein Kinn war auch seine Stimme Marke Hans Albers, mit dem man ich auch sonst gut vergleichen kann. Stundenlang habe ich ihm auf dem Akkordeon vorgespielt. (Die ersten Tasten, übrigens, die ich sah, waren die an seinen Radios gewesen. Er besaß immer die modernsten und aufwendigsten, während mein Opa Wilhelm in Bonn noch lange Zeit einen Volksempfänger benutzte. - Wir auf der Bismarckstraße oder auch im Tannenbusch hatten anfangs gar keins.)
Manchmal, z.B. am ersten Abend eines Ferienaufenthaltes, holte er Löffel, Gläser und Dosen und forderte seine Änne auf, mich zu begleiten. Er selbst klapperte mit zwei Löffeln auf seinem Oberschenkel herum oder ratschte einen Besenstil auf den Stufen der Treppe, die vor dem Wohnzimmer nach oben führten, hin und her, um eine furzende Bassbegleitung zu imitieren. Seine Schwiegermutter, von uns die "kleine Oma" genannt, da sie hinter der uns als Normaloma bekannten Änne doch ziemlich unsichtbar blieb, hockte derweil etwas gequält auf einem Stuhl neben der Tür und wagte außer den Augen nichts zu bewegen.
Ich weiß noch, wie ich Opa meine ersten „eigenen“ Melodien vortrug und er gedankenvoll mit dem Kopf wackelte. "Schade, dass kaum noch eine Melodie frei ist, die meisten sind wohl schon vergeben."
Was er damit sagen wollte, blieb mir lange Zeit ein Rätsel. Genau wie jene mysteriöse "Frau Meier", zu der er dringend gehen musste und dann doch nur in der Toilette verschwand. Die Toilette war lange Zeit ein von der Küche her zugängliches Plumpsklosett, in dem sich Fliegenleimbänder von der Decke ringelten. Die Brettertür war nur mit einem Haken gehalten. Nur mühsam vermischte sich der herausströmende Duft mit den angenehmeren der Küche.
Autor:Franz Bertram Firla aus Mülheim an der Ruhr |
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