St. Martin
Mätesphönix

Foto: Idee: Firla - Umsetzung: Designer-GPT-Bing

Mätesphönix
Ich habe den Song, den wir nun hören werden, vor drei Jahren spontan erfunden, ich hatte den Vögelsche-Text auf dem Notenpult und wollte ihn einfach mal anders interpretieren, anders als die gefühlten tausendmal Mal vorher. Die Harmonienfolge hatte ich mir schon zurechtgelegt und ich wusste, dass meine Keyboard-Anlage auf Aufnahme geschaltet war, aber was bei der Improvisation rauskommen würde, wusste ich nicht.
https://www.youtube.com/watch?v=K-xJ7qlIY54
Entstanden ist dabei , nach meinem Empfinden, eine Art Reminiszenz oder Lamento, ein Blues über ein vertrautes Mäteslied, über seine seltsame Magie, die von jedem einzelnen Wort ausgeht, jenseits der eigentlichen Wortbedeutung, magisch, mystisch, wie auch von der Vorstellung eines unsichtbaren Ssinter Mätes Vögelsche. Auch ein Kind hinterfragt ja den Text nicht, es imitiert ihn um des Mitmachens willen, um des Dabeiseins willen, weil es eben alle singen. Aber die Wörter setzen sich fest, bei vielen ein Leben lang. Für viele Ältere in Mülheim ist das Lied der Inbegriff von Mölmsch Platt überhaupt.
Gestattet mir deshalb im Anschluss ein paar Worte zum Hintergrund unseres Liedes:
Wer ist das Ssinter-Mätes-Vögelsche? Die Frage, an der Rektor Klewer (1865 – 1932) bis unmittelbar vor seinem Tod arbeitete, hatte mich vor 20 Jahren heftig gepackt und ich trug alles zusammen, was über das Lied in Frankreich, Belgien, den Niederlanden und Deutschland in Erfahrung zu bringen war. Dabei war schon früh zu erkennen, dass das Vögelsche-Lied nicht - wie behauptet wurde - in Mülheimer entstanden sein konnte, denn es gab Hunderte Varianten von Dünkirchen bis Vorpommern. Erklärbar durch niederländische Kolonisten, die das Liedchen vom Niederrhein mitbrachten. Verstörend war auch, dass es in Tours, dem Sterbeort des hl. Martin, keine Martinszüge der Kinder am Martinstag gibt, weil dies wohl ein nur am Rhein entstandener Brauch ist. Dies und anderes trug ich bei einem Vortrag für den Geschichtsverein 2002 in der alten Post vor, endend mit dem Appell, dem Rektor Klewer für seine Pionierarbeit zur Erhaltung der heimischen Mundart einen Straßennamen zu widmen. Daraus ist leider bis heute nichts geworden.
Was mein Interesse trotzdem wachgehalten hat, waren neben der jährlichen Beteiligung an Chubbel Chrabbel und Innenstadtmartinszug der Begriff „Ssinter-Mätes-Vögelsche“. Nach zahlreichen Recherchen fragte ich mich: Ist „Vögelsche“ nur ein Reimwort auf Kapögelsche - wie in den niederländischen Varianten z.B. „Kip, Kap, Kogel, Sinte Meertens Vogel“ – oder dürfen wir darin den literarisch gesicherten Begriff „Martinsvögelchen“ sehen, den es bereits im Mittelalter gab?
Der Theologe(!) Peter v. Blois (Petrus Blesensis) schreibt z. B. um 1200 in einem Brief: "de jucundo gloriantur hospitio, si a sinistra in dextram avis sancti Martini volaverit". („Wenn der Martinsvogel von links nach rechts den Weg überfliegt, wird man willkommen sein.“)
Kinderreimerei oder Zukunftsdeutung? Die Frage ist nicht einfach zu entscheiden, weil die Heischelieder, also Bettellieder, einerseits immer wilde Reimereien waren, bei denen eine Textzeile mit der folgenden, also der Reimzeile, nicht unbedingt inhaltlich etwas zu tun haben musste. Andererseits wird ganz am Ende noch der „Pferdefuß“ genannt, der ebenfalls einem eher mittelalterlichen Volksglauben angehört.
Anders als Rektor Klewer und andere glaubten, ist das Martinsvögelchen seit jeher keine bestimmte Vogelart, es wird auch lange Zeit keine besondere Kennzeichnung (rote Kopffedern) angegeben. Es konnte und kann also im Prinzip jeder Vogel sein, der sich bei der Erstbegegnung (dem „Angang“ wie man im Mittelalter sagte) z.B. auf einem Waldweg von links kommend zur Rechten niedersetzte.
Vogelflugdeutungen sind spätesten seit den Römern als Auspizien, bei denen Auguren den Vogelflug als Zeichen der Götter deuteten, wohlbekannt. Und dass ein Vogel mit einer Gottheit verbunden ist, kennen wir bereits aus dem alten Ägypten. Neu ist, dass man nach der Christianisierung den Namen eines Heiligen damit verbindet.
Das Ssinter Mätes Vögelsche bleibt aber unsichtbar, obwohl manche Forscher beim Heischen mitgeführte Vogelmasken vermuten.
Der mystische Martinsvogel gleicht somit einem anderen Vogelmythos, dem Phönix, mit dem der bei uns als der Martinsvogel angesehene Schwarzspecht überdies noch gemeinsam hat, dass er aufgrund der roten Schädelzeichnung auch mit Feuer assoziiert wurde.
Es entsteht nun vor unserem geistigen Auge das Bild eines unsterblichen „Mätesphönix“, der alljährlich aus der Asche des heiligen Martins aufsteigt und die Kinder zu ihrem Heischegang an die erfolgversprechendsten Türen leitet.
Schon Anfang des 20. Jahrhunderts fragten sich Brauchtumsforscher, ob mit dem Vögelchen des Liedes eine Epiphanie des hl. Martin gemeint sein könnte? Also, eine Erscheinung des hl. Martin in anderer Gestalt. Wahrscheinlicher ist, dass dieser abergläubischen Zukunftsdeutung in christlicher Zeit einfach der Name eines „gottähnlichen“ Christenführers (eines Heiligen) übergestülpt wurde. Und dabei ist nicht nur der hl. Martin der Mantelteilung gemeint, nein, auch der Klostergründer, der Missionar, der Kirchenführer, der jetzt den rechten Weg weist: Zuerst war also der Glaube an einen wegweisenden Vogel da, dann die Kenntnis vom Missionar Martin, und dann wurde beides miteinander vermischt. Umwidmung nennt man das auch. Der alte Glaube lebt versteckt im neuen weiter.
Durch die Initiative von Wilhelm Klewer und seinem Plattdütschen Krink können noch viele Mülheimer die zwei Zeilen mit dem Vögelchen rezitieren, auch wenn sie sonst über keine Plattkenntnisse mehr verfügen, selbstverständlich, ohne zu wissen, wer dieses Vögelchen denn sein soll.
Und wenn mich Rektor Klewer heute fragen würde: „Wän üs dat Ssinter Mätes Vöügelsche?“, dann würde ich ihm antworten: „Nä, Wim, et ös nee dinne Kornwe-ihe un ouk nee dä Isvougel, dä be-i de Franzoase „Martinsfischer“ he-it, et ös waal dä Mätesphönix!“
Das bringt mich aber nicht davon ab, für ihn in der Mülheimer Altstadt immer wieder ein sichtbares Denkmal anzuregen, weil er einfach zur Mülheimer Kulturgeschichte gehört. …. En hattlich Dankeswäät für Eure Aufmerksamkeit!

Autor:

Franz Bertram Firla aus Mülheim an der Ruhr

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