Sterben in Mundart
Ick ouk – eine Lazarettszene mit Übertragung ins Hochdeutsche

Foto: Wikipedia

Im „Innich“-Teil seines Gedichtbandes „Innich, Ssinnich, Finnich“ finden sich eine ganze Reihe von glühenden Bekenntnissen und Treueschwüre auf Heimatstadt und Muttersprache. Besonders beeindruckend ist dabei die Sterbeszene in einem „östlichen“ Lazarett. Man denkt sofort an Stalingrad 1942, das bei Erscheinen von Harderings Lyrikband im Jahr 1954 ja allen noch sehr frisch in Erinnerung war.

Ein junger, tödlich Verwundeter, vom Arzt schon aufgegeben, hört wie sein Bettnachbar im Fieberwahn seinen Schmerz hinausschreit – auf Mölmsch Platt - und stellt die Frage „Büss dou va‘ Mölm?“. Der Bettnachbar bejaht die Frage, und die letzten dankbaren Worte des jungen Soldaten sind „Ick ouk!“ Er fühlt sich in seiner Situation nicht mehr allein und kann in Frieden loslassen.

Man mag es als schnulzige Szene aus dem Heimatfilmgenre abtun, aber was uns heute schwülstig und übertrieben vorkommt, war 9 Jahre nach dem 2.Weltkrieg für viele noch gut vorstellbar.
Und es bleibt eine Tatsache, dass Menschen in höchster Bedrängnis, zumal im hohen Fieber, in ihre Muttersprache „zurückfallen“.
Und die Freude, in der Fremde auf Leute aus seiner Heimatstadt zu treffen, ist allgemein und jedem vom Urlaub her bekannt, allein, wenn man fernab von zuhaus die Autokennzeichen seiner Stadt liest.
Wie überwältigend mag die Freude erst unter den Bedingungen des Fronteinsatzes in einem Weltkrieg sein?

Hardering kann hier keine eigenen Erlebnisse verarbeitet haben, da er nicht Soldat war. Möglich ist aber, dass er von Erlebnissen anderer in seinem familiären und weiteren Umfeld angeregt worden ist. Es kam ihm sicher auf die Herausstellung der Wirkung der Muttersprache an, die hier quasi wie ein Sakrament die Todesqualen lindert.
Ich bewundere, wie Hardering es mit den schlichten Worten der Mundart schafft, so eine dichte Atmosphäre zu schaffen, die uns die Szene vor unserem inneren Auge nachvollziehen lässt.

Hardering sieht die Mundart immer als von der Mutter erworbene Sprache, also Muttersprache, und nicht als zufälligen Ortsdialekt, den man durch Umgang mit anderen zusätzlich zum Hochdeutschen spricht und versteht.
Somit ist jedes Sprechen ein In-Verbindung-treten mit den Wurzeln der eigenen Existenz, von Anfang bis zum Schluss. In den „Plattdüttsche Chedanke“ leitet Hardering die Muttersprache sogar vom Schöpfungswort Gottes ab: „Die Sprook, die iäwig ault üss, die doch ümmer wirr mit jedem Minsche nöü geboore wäd, die Sprook üss die Moodersprook, die Ursprook, in der Chott chekallt heet: « Et wäd"!“
PS. Leider gibt es gerade beim zentralen „Ick ouk!“ im Buch einen Druckfehler- Ich statt Ick. Die Überschrift lässt jedoch keinen Zweifel daran, wie es heißen muss.

Ick ouk

Et ste-iht im Uasten en Lazarett,
In lange Riege, — Bett am Bett,
In jeedem Bett üss chruate Nuat.
Dootüsche che-iht Chevaader Duat
Un höllt ssich hie ees e-inen 'ruut
Un blöös ees doo en Lichsken uut.
Merr ümmer üss dän auneren Daag
Et Bett, vam frische wirr belaach,
Mit e-inem, dän va' ssinem Le-id
Erlüas wäd, füar die Iäwichke-it.
Manch Wief, manch Mooder, manche Bruut,
Che-iht hie et lääste Hoopen uut.

Dä junge Kääl, im läästem Bett,
Dä mack et ouk nee lang merr mit.
Hee üss ssu' still, witt ees et Laake,
Ssind ouk ssin i'gefallene Backe.
Ssin Ouge liggen deep im Kop.
Dän Dokter chew üm ouk all op.
Boll alle Stund kümp hee ees luure
Un me-int; et köü’ ne lang merr duure.

Un in däm Bett chliek neewenaan,
Doo knees füar Pien en Landsturmmann.
Füar Pien kann hee boll ni’miähr ligge.
Et Feewer üss ssu' huach chesteege,
Dat hee ssich ni'miähr rääch befe-ind,
Chlöüf ssich der He-im, be-i Wiew un Ke-ind.
Merr nou üss hee im Kope kloor.
Dat dünne Laake liät üm schwoor
Un hatt op ssin kapode Knooke.
Hee heet et ssich va'm Lief chetrocke

Un rüpp: „Me-in Chott, ick kann ni'miähr,
Wat dunnt me-i wirr min Knooke wiäh!"
Doodrop, kümp in dä Jung dooneewe
Op e-imool wirr em bittsche Leewe,
Hee rich ssich op, ssu' chutt hee kann,
Kick üm mit chruate Ougen aan,
In der et lääste Leewe chlöüht:
„Büss dou va' Mölm?" — Frööch hee vol Freud.

„Chemecklich!" Sseet dä Landsturmmann.
Doo kick dä Jung üm chanz chruat aan,
Et Chlück schient uut däm kranken Ouch
Un sseet, koum dat me't hüa't: „Ick ouk!"

Dann fällt hee langssaam aachter rööwer.
Füar üm, doo wuar nou alles ööwer.
Hee liät im Küsse, chanz tefree-e,
Dat hee nou endlich uutchelee-e.
Merr wahl, et wuar en fruahe Schien
In däm chebrooken Ouch te ssehn,
Ees hätt, iähr dat et chanz chebrooke,
Ssi' Mooder noch mit üm gesprooke.

Übertragung:

Ich auch

Es steht im Osten ein Lazarett,
in langen Reihen, - Bett an Bett,
in jedem Bett ist große Not.
Dazwischen geht Gevatter Tod
Und holt sich hier mal einen raus
und bläst mal dort ein Lichtlein aus.
Aber immer ist den nächsten Tag
Das Bett, frisch wieder belegt,
von einem, der von seinem Leid
erlöst wird, für die Ewigkeit.
Manchem Weib, mancher Mutter, mancher Braut,
geht hier die letzte Hoffnung aus.

Der junge Mann, im letzten Bett,
der macht es auch nicht mehr lange mit.
Er ist so still, weiß wie das Laken,
sind auch seine eingefallenen Backen.
Seine Augen liegen tief im Kopf.
Der Doktor gibt ihn auch schon auf.
Bald alle Stunde kommt er mal schauen
Und meint: es könnte nicht mehr lange dauern.

Und in dem Bett gleich nebenan,
da stöhnt vor Schmerz ein Landsturmmann.
Vor Schmerz kann er bald nicht mehr liegen.
Das Fieber ist so hochgestiegen,
dass er sich nicht mehr zurechtfindet,
glaubt sich zu Hause bei Weib und Kind.
Aber nun ist er im Kopfe klar.
Das dünne Laken liegt ihm schwer
Und hart auf seinen kaputten Knochen.
Er hat es sich vom Leib gezogen

Und ruft: „Mein Gott, ich kann nicht mehr,
was tun mir wieder meine Knochen weh!“
Darauf, kommt in den Jungen daneben
Auf einmal wieder ein bisschen Leben,
er richte sich auf, so gut er kann,
schaut ihn mit großen Augen an,
in denen das letzte Leben glüht:
„Bist du von Mülheim?“ – Fragt er voll Freude

„Gewiss, ja!“ Sagt der Landsturmmann.
Da schaut der Junge ihn ganz groß an,
das Glück scheint aus dem kranken Auge
und sagt, kaum dass man es hört: „Ich auch!“

Dann fällt er langsam hinten rüber.
Für ihn war nun alles vorüber.
Er liegt im Kissen, ganz zufrieden,
dass er nun endlich ausgelitten.
Wohl aber war ein froher Schein
In dem gebrochenen Auge zu sehn,
als hätte, ehe dass es ganz gebrochen,
seine Mutter noch mit ihm gesprochen.

Autor:

Franz Bertram Firla aus Mülheim an der Ruhr

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