Grimm für einen Isegrim-Abkömmling
Auch Hunde mögen Märchen

„Es war einmal ...“ Kaum habe ich diesen Introitus ins Wunderland des Märchens ausgesprochen, höre ich ein paar Küchenstühle aneinander krachen, die Glasscheibe der Küchentür erzittert, ehe das Dielenparkett erbebt, und schon biegt Willy um die Ecke der Wohnzimmer-Couch. Er bremst mit ausgefahrenen Krallen scharf vor meinen Knien, macht brav Sitz, blitzt mich hechelnd an und bohrt zitternd vor Erwartung abwechselnd das linke und das rechte Bein in den weichen Teppich. „Na, Willy, möchtest du ein Märchen hören?“ frage ich scheinheilig und habe schon das Buch aufgeschlagen. Willy nickt heftig und kläfft und jault in höchsten Schäferhund-Koloraturen. „Ja, was nehmen wir denn dann für eins?“ Sofort legt er mir eine Pfote aufs Knie und kläfft sechs Mal kurz und eindringlich. Damit bedeutet er mir unmissverständlich: „Der Wolf und die sieben Geißlein!“
Das Märchen ist natürlich wie geschaffen für einen Schäferhund. In Ermangelung von Geißlein sammelte unser Isegrim-Verwandte zwar mehr Erfahrung als Hühnerwürger, wäre aber im Prinzip zarten Vierbeinern auch nicht abgeneigt, zumal er trotz seiner Rasse nie zum pfleglichen Umgang mit Schafen und Ziegen angeleitet wurde.
Natürlich habe ich in der Wohnung rechtzeitig alle Vorbereitungen getroffen, um meinem Isegrim-Abkönmmling den Inhalt des Märchens art- und zeitgerecht schmackhaft zu machen.

„Es war einmal eine alte Geiß, die hatte sieben junge Geißlein. Sie hatte sie so lieb, wie eben eine Mutter ihre Kinder lieb hat. Eines Tages wollte sie in den Wald gehen und Futter holen.“ Willy dreht seinen Kopf mit den gespitzten Ohren ruckartig hin- und her und liest mir mit bohrenden Augen fast jede Silbe von den Lippen ab. Beim Wort „Futter“ bellt er ebenso verständnis- wie erwartungsvoll. „Da rief sie alle sieben herbei und sprach: „Liebe Kinder, ich muss hinaus in den Wald. Seid inzwischen brav, sperrt die Türe gut zu und nehmt euch in Acht vor dem Wolf!“ Bei Willy bilden sich erste Tropfen an den Lefzen. „Wenn er hereinkommt, frisst er euch mit Haut und Haaren. Der Bösewicht verstellt sich oft, aber an seiner rauen Stimme und an seinen schwarzen Füßen werdet ihr ihn gleich erkennen.“
Willy legt mir seine Pfoten etwas vorzeitig auf die Knie. Ich schiebe sie weg. „Noch nicht Willy, hör zu! Die Geißlein sagten: „Liebe Mutter, wir wollen uns schon in Acht nehmen, du kannst ohne Sorge fortgehen.“ Da meckerte die Alte und machte sich getrost auf den Weg. Willy leckt sich die Tropfen vom Maul. Es dauerte nicht lange, da klopfte jemand an die Haustür und rief: „Macht auf, ihr lieben Kinder, eure Mutter ist da und hat jedem von euch etwas mitgebracht!“ Aber die Geißlein hörten an der rauen Stimme, dass es der Wolf war. Auf das Stichwort „raue Stimme“ schlägt Willy an. Es klingt wie „Rrrau! Rrrau!“ „Wir machen nicht auf“, riefen sie, „du bist nicht unsere Mutter. Die hat eine feine und liebliche Stimme, deine Stimme aber ist rau. Du bist der Wolf!“ Jetzt steht Willy und schiebt mir seine Schnauze auf den Schoß. Da ging der Wolf fort zum Krämer und kaufte sich ein großes Stück Kreide. Ich schiebe Willy ein paar mit Puderzucker präparierte Salzstangen ins Maul. Er aß es auf und machte damit seine Stimme fein. Dann kam er zurück, klopfte an die Haustür und rief: „Macht auf, ihr lieben Kinder, eure Mutter ist da und hat jedem von euch etwas mitgebracht!“ Willy hat kaum die gezuckerten Salzstangen hinuntergewürgt, da singt er erhobenen Hauptes eine Koloraturarie wie es eben nur ein Schäferhund im Angedenken an seine wölfische Vergangenheit fertigbringt und legt mir dann wieder eine Pfote aufs Knie. Aber der Wolf hatte seine schwarze Pfote auf das Fensterbrett gelegt. Das sahen die Kinder und riefen: „Wir machen nicht auf! Unsere Mutter hat keinen schwarzen Fuß wie du. Du bist der Wolf!“ Nun, unser Willy hat keine schwarzen Pfoten, normalerweise, eher hellbraune und hätte wohl bei den Kids sofort passieren können, weil sie wohl den Unterschied zwischen hellbraun und weiß noch nicht gekannt haben dürften. Aber das hätte Wilhelm die Vorspeise verdorben. Ich schiebe seine Pfote wieder fort und lange hinter meinen Rücken, wo ich die Tüte mit Puderzucker eingeklemmt habe. Dann fahre ich fort:
Da lief der Wolf zum Bäcker und sprach: „Ich habe mir den Fuß angestoßen, streich mir Teig darüber!“ Sofort schnellt Willys Pfote auf mein Knie. Jetzt gebe ich das Kommando "Bleib!", das ihn in dieser Stellung ausharren lässt, aber ich weiß, die nächsten Passagen des Märchens müssen knapper gefasst werden, denn sein Bellen, das mittlerweile tropfende Maul und das Schnappen nach der Puderzuckertüte verraten mir, dass keine Zeit zu verlieren ist. Ich lasse den Bäcker Bäcker sein, fürchte mich schon mit dem Müller und streue zügig den Puderzucker auf seine Pfote und meine Hose. Schon rufen die Geißlein: „Zeig uns deine Pfote, damit wir wissen, dass du unser liebes Mütterchen bist.“ Willy will die Pfote nicht länger zeigen und schleckt lieber den Zucker ab. Jetzt stellt er sich auf alle Viere, bellt so durchdringend, das sämtliches Geschirr klirrt und wirbelt die Luft mit Schwanzschlägen zum Taifun. Die Geißlein erschraken und wollten sich verstecken. Das eine sprang unter den Tisch, das zweite ins Bett, das dritte in den Ofen, das vierte in die Küche, das fünfte in den Schrank, das sechste unter die Waschschüssel, das siebente in den Kasten der Wanduhr.“ Jetzt ist er nicht mehr zu halten und auf das Kommando „Such!“ durchstöbert er in Windeseile die ganze Wohnung. Er weiß, sechs Leckerchen sind sorgfältig versteckt. Aber der Willywolf findet sie und verschluckt eines nach dem andern. Ein bisschen Knochenknacken ist natürlich auch dabei. Nur das kleine Zuckerplätzchen oben im Bücherschrank, zu dem er kurz aufblickt, interessiert ihn nicht sonderlich. Er weiß, das siebte Leckerchen ist für Herrchen.
Im Übrigen scheint sein Suchen arge Zweifel an der Überlieferung der Gebrüder Grimm auszudrücken, wonach die Geiß bloß sieben Junge gehabt haben soll. Endlich kommt er zufrieden zur Couch zurück, leckt sich die Schnauze und lässt sich auf dem Teppich nieder. Ich fahre fort: „Nicht lange danach kam die alte Geiß aus dem Walde wieder heim.“ Ich hole mir das Plätzchen aus dem Bücherschrank und esse es, etwas vom Urtext abweichend, genüsslich auf. Willy schaut mäßig interessiert, er kennt das Märchen und weiß, dass wenn ich esse, dies den Schluss des Gelages ankündigt. Ich sehe mich im Wohnzimmer um und bin nicht ganz so entsetzt wie die alten Geiß, doch gibt es anschließend auch hier einiges aufzuräumen. Zunächst aber muss das Märchen zum Abschluss gebracht werden.
Ich setze mich mit dem Buch neben Willy auf den Boden. Als sie auf die Wiese kamen, lag der Wolf immer noch unter dem Baum und schnarchte, dass die Äste zitterten. Willy stöhnt und lässt sich den Bauch kraulen. Dabei streckt er sich zur erschreckend vollen Länge und dreht sich auf den Rücken. Da ich nicht will, dass die Leckerchen Willy durch zu heftige Bauchmassage vorzeitig verlassen, deute ich den Scherenschnitt der Geißenmutter nur an. Er liegt da wie geschlachtet, steif und stumm. Dann hat er plötzlich genug und rappelt sich auf. So kann ich ihn mit der gekürzten Fassung in die Küche begleiten:
„Was rumpelt und pumpelt in meinem Bauch herum? Ich meinte, es wären sechs Geißelein, doch sind's lauter Wackersteine.“
Willy trottet zu seinem Wassernapf und säuft und säuft. Doch so sehr er auch säuft, er macht keine Anstalten im Napf zu ertrinken. Ich klopfe ihm von oben seitlich auf den Bauch, in dem die Geißlein-Leckerchen noch eine Weile verbringen müssen, ehe sie beim nächsten Gassi befreit werden. Dann trollt er sich sehr behäbig auf seinen Liegeplatz am Küchenschrank und lässt sich auf den Kachelboden knallen, so als hätte er wirklich Wackersteine gefressen. Dabei schaut er mich kurz an, als erwarte er noch was. Richtig der Schlussgesang ist fällig: „Der Wolf ist tot. Der Wolf ist tot!“. Während ich singend um den Küchentisch tanze, legt er seinen Kopf mit angelegten Ohren auf seine Vorderpfoten, die wirklich nichts mehr vom Puderzucker ahnen lassen. Und während ich noch tanze, fallen ihm die Augen zu. Schon bald schläft er mit tiefen, wohligen Seufzern. Er träumt bereits von der nächsten Märchenstunde, bei der er in meinem Bett schlemmen darf.
Morgen gibt's nämlich "Rotkäppchen".

Autor:

Franz Bertram Firla aus Mülheim an der Ruhr

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