Urlaubserinnerungen
Abfall der Provisorien in den Niederlanden – 2018
Länger als fünf Stunden hatte er an den Zähnen herumgebohrt und –geschliffen. Links oben und rechts oben. Zwei seitliche Zahnlücken sollten überkront werden. Am nächsten Morgen war ich kreislaufmäßig nicht in der Lage, an der Einschulung unseres Enkels Benjamin teilzunehmen. Der Schädel brummte wie nach einem Premium-Besäufnis. Erst zum Mittagessen stieß ich zur Familienfeier in einer geräumigen Gaststätte. Eingedenk meiner nur geklebten Provisorien bestellte ich mir vorsichtshalber kein Fleisch. Und abgesehen von den Restschmerzen lief auch alles glatt.
Am übernächsten Tag ging es mir deutlich besser und ich vergaß allmählich das halbtägige Bohren samt den zwei Mehrzahn-Provisorien. Dabei half mir, dass wir mit unserem Zwergschnauzer Oskar nach Ostkapelle in unseren einwöchigen Nordsee-Urlaub fuhren. Wie immer waren wir eine Stunde zu früh da. Und wie immer steuerten wir die Boshoek an, wo wir beim „Küstenwinzer“ hinter den Dünen unter blauen Weinreben eine Kleinigkeit zu uns nehmen wollten. In unbeschwerter Vorfreude auf die kommenden Tage bestellte ich mir eine interessant klingende holländische Spezialität, die sich als eine Tasse Gulasch herausstellte.
Ich hätte auch gleich Rahmbonbons oder Knetgummi bestellen können. Dem Gulasch gelang es jedenfalls nach wenigen Bissen problemlos das rechte Provisorium abzulösen und mir auf die Zunge zu legen, was die Geschmacksknospen richtig als nicht zum Gulasch gehörig identifizierten. Innehaltend flehten meine Augen meine ehemalige Verlobte um ein Tempotuch an, um ohne viel Aufsehens an den Nachbartischen das gulaschgetränkte provisorische Zahngehäuse dem Mund zu entnehmen. Ich wickelte es unter dem Tisch sorgfältig ein und reichte es dort auch gleich weiter, damit sie es in den unergründlichen Tiefen ihrer Handtasche versenken möge.
Ich hatte den festen Willen, mir den Urlaub nicht verderben zu lassen und löffelte munter weiter. Schon nach wenigen Bissen, jetzt zur Abwechslung links, fiel das dortige Provisorium ab und drohte samt Gulasch in meinen Schlund zu gleiten. Etwas enttäuscht nickte ich meiner ehemaligen Verlobtem komplizenhaft zu. Sie zückte das nächste Tempotuch und die Prozedur wiederholte sich in bewährter Manier. Den Rest balancierte ich dann auf der Zunge rückwärts, da das ungarisch-niederländische Fleischgericht auf den empfindlichen Zahnstümpfen doch für einigen Missmut sorgte.
Wir zahlten zügig und checkten erstmal im Ferienhaus ein. Mit der holländischen Dame aus Seerooskerke sprach ich nur wenig, da mir jeder Luftzug im Mund einen schneidenden Schmerz verursachte. Meine bessere Hälfte befragte sie nach Zahnärzten. Sie empfahl einen in Domburg, der allerdings am Wochenende nicht praktizierte. Wir fuhren also nach dem Einchecken ins Touristenzentrum. Dort bekamen wir freundlicherweise eine Adresse im nahen Vlissingen genannt, wo Sonntagsmorgens ein Notdienst Bereitschaft hatte. Also dann Mund geschlossen halten und bis morgen warten. Und sehr viel Zeit zum Reinigen der Provisorien von den Gulaschresten. Entsprechende Pflegemittel hatte ich ja mit. Danach passten die beiden Mehrzahn-Gehäuse verblüffend gut auf die Zahnlücken und behielten auch ihre Position, während wir den Strand inspizierten. Mein Abendessen wurde vorsorglich zu Brei geschlagen.
Am Morgen fuhren wir zeitig nach Vlissingen. Dass beim holländischen Notdienst der Erste auch der als erster drankommt, sollte sich leider als deutscher Irrtum herausstellen, wohl weil es mir nicht gelang, der Dame an der Rezeption weder in Deutsch noch in Englisch begreiflich zu machen, dass es sich in meinem Fall voraussichtlich nur um eine kurze dentale Klebeaktion handeln würde.
Nun sind meine Sprechwerkzeuge mit oder ohne Provisorium nicht für Englisch ausgelegt, da ich 1943 gezeugt wurde, wo Englisch ausgesprochen verpönt war. Obendrein wollte mir auch partout nicht einfallen, was „Provisorium festkleben“ in dieser Sprache heißen könnte. Andererseits verstand ich ihr „Cash“ sofort und rechnete schon mal mit 50,- €.
Sicher, ich hätte ihr eins meiner lose sitzenden Provisorien zeigen können, was ich aber angesichts der Schlange, die sich hinter mir gebildet hatte, für unschicklich hielt. Möglicherweise wäre die Verständigung auch besser gewesen, wenn der Hund mit hineingedurft hätte. Nicht dass Oskar perfekt Holländisch oder Englisch spräche, aber meine ehemalige Verlobte, die ihn draußen an der Leine und bei Laune hielt, hätte sich durch ihren Englisch-Volkshochschulkurs, den sie wöchentlich besucht, sicher besser ausdrücken können, zumal sie nicht durch Provisorien behindert und nach dem 3. Reich das Licht der Welt erblickt hatte.
So nahm ich den Fragebogen dankend entgegen und suchte mir einen Schreibplatz. Der Fragebogen war in Niederländisch, glich aber auffallend den entsprechenden deutschen, die neben den einzunehmenden Medikamenten und Unverträglichkeiten auch die bereits überstandenen Operationen im gesamten bisherigen Leben, mit Jahreszahl, abfragen, wobei ich mir auf Grund meines biblischen Alters gewohnt großzügige Freiheiten nehme, auch wenn ich die Frage verstehe. Nach Abgabe des Fragebogens dauerte es eine Stunde, während der die nach mir Gekommenen zügig aufgerufen wurden. Vermutlich waren sich die sonntäglichen Zahnmediziner hinter den drei Türen über die Aussprache meines Nachnamens uneinig.
Dann endlich erschien eine Zahnfee in Violett und sagte etwas wie „Frlll,“worauf niemand, einschließlich meiner Wenigkeit, reagierte. Ich schaute zur Rezeption hinüber, tippte fragend auf meine Brust und bekam die Bestätigung, dass dies aber nun mal mein Name sei.
Ob ich mit ihr eventuell Deutsch parlieren könne, fragte ich die Zahnkönigin bei der Begrüßung, was sie bejahte und anfügte: „Ich bin kein Zahnarzt!“ „Das macht gar nichts“, sagte ich, „wenn Sie nur den geeigneten Klebstoff vorrätig haben!“ Und ich entblößte vor ihr meine Zahnlücken und bot ihr aus der Hand meine Provisorien dar. „Ah, ja, verstehe, der Zahnarzt kommt gleich, ich bin, wie nennt man das, Assistent?“
Von da an dauerte es nur knapp eine Viertelstunde und ich war wieder mit Frau und Hund vereint. Die Gute hatte sich derweil draußen mit einer Holländerin unterhalten, die sehr gut Deutsch sprach. Jetzt fühlten wir uns wieder frei und erleichtert, nicht nur um 153,- € , sondern auch, dass die leidige Angelegenheit endlich erledigt war. Wir besichtigten noch den Schelde-Hafen in der Nähe, wo ich vorsichtshalber nur einen Kofie trank, und fuhren dann zum Hundestrand nach Oostkapelle. Am Abend aß ich wieder mit abgesicherten Zahnlücken, bemühte mich aber, die Gabelladungen etwas kaninchenhaft mit den Schneidezähne zu zerkleinern und durch die Mundmitte zu balancieren, um das seitliche Mahlwerk nicht zu behelligen.
Es wurde ein esstechnisch disziplinierter, aber schöner Urlaub, in dem die Provisorien treu und fest mit den restlichen Zähnen vereint blieben.
Autor:Franz Bertram Firla aus Mülheim an der Ruhr |
Kommentare
Sie möchten kommentieren?
Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.