Rinderschädelplastik
Was macht der Ochse am Rathaus?
Entschuldigung. Ich kriege den Ochsen vom Rathaus nicht mehr aus dem Kopf. Halb mythisch, halb lächerlich geistert er durch meine Tag- und Nachtträume. Er hängt da auch so zentral über dem schattigen ehemaligen Turmeingang. Dreimal Symbolhaftes links und dreimal Symbolhaftes rechts neben sich. Aus seinen hohlen Augenhöhlen blickt er herab auf die wenigen Menschen, die hier zu Fuß unterwegs sind. Und das schon mehr als hundert Jahre. Eine Schmuckkordel führt über die Hörner und rahmt ihn seitlich ein. Sieht nach Brauchtum aus. Man fragt sich, was das mit Mülheim zu tun hat.
Man spricht in Mülheim nicht über den Ochsenkopf. Mit mir jedenfalls nicht, und die Bücher und Zeitungen schweigen. Wahrscheinlich hat er auch nichts direkt mit Mülheim zu tun. Gehörte wohl zur damaligen Architekturbeigabe.
Der Hobby-Google-Forscher erfährt denn auch von einem bekannten Schmuckelement an Gebäuden aller Art, wenn er auf gut Glück mal einfach „Ochsenkopf“ eingibt.
Man habe es Bukranion = Ochsenschädel genannt. Ein steingemeißelter frontaler Rinderschädel im Halbprofil mit einer um die Hörner gewundenen Opferbinde (soll ursprünglicher heißen: hier opfert man, hier ist man fromm, nicht etwa Almabtrieb, Ranch oder Steakhouse). Der terminus knacktus ist also „Bukranion“(engl. bucranium). Mit diesem Sesamschlüssel wird die Suche dann bedeutend ergiebiger, besonders in der englischen Form! Dem Mülheimer Schädel sehr ähnliche Bilder bestätigen zudem, dass ich auf dem richtigen Trip bin.
Viele griechische Tempel trugen Bukranien-Friese mit Girlanden und Rosetten. Über die Römer gelangten diese Gebälkfriese aus Italien auch ins Rheinland. (Neuss, 1. Jahrhundert). Man entdeckt sie auch an Sarkophagen. Die Renaissance übernahm sie einfach ohne religiösen Hintergrund als Schmuckelemente der Architektur. Eines der frühesten veröffentlichten Bilder von Bucrania erscheint in Buch IV von Sebastiano Serlios L'Architettura (1537), in dem er einen dorischen Fries zeigt, der auf einem Fries in Roms Forum Boarium (ursprünglich Viehmarkt) beruhte. Und siehe da: Über jedem Fenster der Tieranatomie (!) auf dem Berliner Charité-Gelände, ist auch solch ein Bukranion zu sehen. Bauherr war Hohenzollernkönig Friedrich-Wilhelm II. Als das Mülheimer Rathaus 1915 vollendet wurde, hatten wir noch einen preußischen Kaiser.
Auch das Berliner Schloss hat ein Bukranion, mit viel Blattwerk und Girlanden unter einem Fenstergiebel. Erst vor kurzem wurde es nach altem Vorbild sorgfältig aus sächsischem Sandstein geschlagen.
Aber auf keinem deutschen Bauwerk ist das „Stierzeichen“ so deutlich zu sehen wie auf dem Schweizertor der Wiener Hofburg, ein Renaissancebau von 1552.
Dass man auf der Suche nach einer Erklärung für kulturelle Tradition in Deutschland - und hier speziell Mülheim an der Ruhr - bis auf Römer und Griechen zurückgreifen muss, ist man ja gewohnt. Dass die Römer und Griechen ihrerseits aber auf die Kultur der Steinzeit zurückgegriffen haben, ist vielleicht die größte Überraschung dieses neugierigen Blickes auf ein unbeachtetes Rathausdetail.
Wäre da nicht noch die Ägyptologie, die im Rinderkopf das bekannte dreieckige Symbol für den Uterus sehen möchte, da der Rinderkult dort mit der Göttin Isis verbunden war. Ob sich aber in dem tierischen Mölmschen Rathausdekor ein früher Feminismus manifestierte, vermag ich nicht zu sagen.
Die Mittelstellung über dem Osteingang des Rathauses entspricht aber in jedem Fall der von allen Wissenschaftlern betonten Schutzfunktion, die dieses Zeichen in allen Kulturen innehatte. Im Vergleich mit anderen Bukranien wirkt unseres breiter und maskenartiger, was durch die Schlitze um Augen und Nase hervorgerufen wird.
Im Übrigen ist diese ganze Anordnung unter dem kleinen Balkon den Metopen der romanischen Konsolenfriese nachempfunden.
Damit wäre die Sache erstmal vom Tisch. Und für meinen Eingang eine neue Idee geboren.
Autor:Franz Bertram Firla aus Mülheim an der Ruhr |
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