Stücke 2020 beweisen die Lebendigkeit den deutschen Dramas
Totgesagte leben länger
Nicht nur Theaterfreunde aus Mülheim hatten bereits sehnsüchtig auf die Verkündung der Nominierung zu den Stücken 2020 gewartet. Am Dienstag blickten aus aller Welt Kenner und Liebhaber des deutschsprachigen Theaters auf die Ruhrstadt. Das Auswahlgremium verkündete die Nominierungen zu den diesjährigen Stücken und Kinderstücken.
Von Andrea Rosenthal
Und die beinhaltete teilweise große Überraschungen: Obwohl sie 2019 mit teils vielbeachteten Uraufführungen an den deutschsprachigen Bühnen vertreten waren, hatten es die bekannten - und in den Vorjahren sehr erfolgreichen - Stückeautoren Elfriede Jelinek, Sibylle Berg oder Wolfram Lotz zwar in die engere Auswahl, aber nicht unter die Nominierten geschafft.
„Wir haben es bei den Stücken 2020 mit einem besonders starken Jahrgang zu tun“, betonte Christine Dössel, Feuilleton-Chefin der Süddeutschen Zeitung und in diesem Jahr Sprecherin des Auswahlgremiums. 110 im vergangenen Jahr uraufgeführte Texte haben die Experten für die Auswahl gesichtet. 15 schafften es in die letzte Runde. Die Diskussionen waren hart. Christine Dössel verrät:“Wir hätten von der Qualität her tatsächlich noch vier, fünf Stücke mehr einladen können. Mehr als acht sind leider nicht möglich.“
Und diese acht lassen sich unter fünf Schlagworten einordnen: Klimawandel, Künstliche Intelligenz, die Geschlechterdebatte im Zuge von „MeToo“, der/die/das Fremde und Politik. „Das beweist, das Drama ist am Puls der Zeit“, meint Dössel.
Mit ihrem Werk haben es letztlich drei Frauen und fünf Männer zu den Stücken 2020 geschafft. Drei von ihnen sind erstmals nach Mülheim eingeladen und ihre Stücke werden vom 16. Mai bis 6. Juni von den Ensembles der Uraufführungstheater in der Ruhrstadt gezeigt. Eine Fachjury wird einem von ihnen den Mülheimer Dramatikerpreis 2020 verleihen, der mit 15.000 Euro dotiert ist. Auch das Publikum wird wieder einen Preisträger auswählen können.
Und darauf dürfen sich die Theaterfreunde freuen:
Komisch und peinlich
Die Mülheim Debütantin Sivan Ben Yishai hat mit „Liebe – Eine argumentative Übung“ ein Stück über feministische Selbsterkundung geschrieben. Ihre Heroen sind die Comicfiguren Popey und Olivia, die in einer moderen Paarbeziehung leben und die klassischen Rollenbilder oftmals auf den Kopf stellen. Die Sprecherin des Auswahlgremiums beschreibt das Werk als „markant, komisch, schonungslos selbstkritisch und intim. Es entbehrt bewusst aus nicht gewisser Peinlichkeiten.“ Die Autorin ist Israelin, lebt aber seit 2012 in Berlin. Zur Zeit ist sie Hausautorin am Nationaltheater Mannheim, dessen Inszenierung in Mülheim zu sehen sein wird.
Das Leben kommt als Fabel daher
Eine weitere Newcomerin ist Caren Jeß. Das Nordlicht aus Eckernförde hatte erst 2017 den Durchbruch als Dramatikerin, gewann dank ihres Schreibstils jedoch gleich mehrere Wettbewerbe. In Mülheim ist sie nicht nur mit „Bookpink“ in einer Inszenierung des Schauspielhauses Graz, sondern auch bei der neu ins Leben gerufenen StückeWerkstatt vertreten. „Bookpink“, plattdeutsch für Buchfink, ist eine Fabel in sieben Episoden. Caren Jeß lässt dort Vögel und Pflanzen über menschliche Verwirrungen, Emanzipationsversuche, Überforderung und Stress, Schönheit und Problemkindheiten philosophieren. „Die Autorin mag als Dramatikerin noch ein Küken sein, aber was für ein eigener Ton! Umso mehr freuen wir uns, diese neue, junge, ungewöhnliche Stimme vorstellen zu können“, lobte Christine Dössel.
Ein anderer Blick auf Deutschland
Ein weiterer Mülheim Debütamt ist Bonn Park, der vor allem in Berlin als Dramatiker und Regisseur schon große Erfolge feiern konnte. Der Sohn korreanischer Eltern hat einen besonderen Blick auf seine deutschen Mitmenschen. Und so geriet sein Werk „Das Deutschland“ zur überspitzten Horrorgroteske, in der deutsche Rituale und Werte auf die Spitze getrieben werden. Eine gruselige Schablone, in die das Bühnenpersonal ohne Ausnahme zwangsintegriert wird. Gezeigt die das Stück vom ETA Hoffmann Theater Bamberg.
Trockenes Thema, humoriges Stück
Auch Felicia Zeller kommt mit einem urdeutschen Thema daher. „Der Fiskus“ heißt ihr Werk, mit dem die Komödienspezialistin aus Stuttgart nun bereits zum sechsten Mal in Mülheim vertreten ist. Im Mittelpunkt stehen fünf Finanzangestellte, die es schaffen, ihr Leben in guten wie in schlechten Zeiten bestmöglich von der Steuer abzusetzen. Die Sprecherin des Auswahlgremiums verrät, was sie an dem Text überzeugt hat: „Das Stück ist gut recherchiert, faktenreich und pointenscharf, es zielt auf den Steuersünder in jedem von uns.“
Noch ein alter Bekannter
Auch für den Österreicher Ewald Palmetshofer ist es bereits die fünfte Einladung nach Mülheim. Brillierte er vor zwei Jahren mit der Gerhart-Hauptmann-Adaption „Vor Sonnenaufgang“, so geht es diesmal mit „Die Verlorenen“ um einen eigenen Stoff. Das Münchener Residenztheater hat mit großem Ensemble das Werk rund um die Sinnsuche innerhalb einer Patchwork-Familie umgesetzt. Im Mittelpunkt steht Clara, die an Burn-Out leidet und auf der Suche nach Sich in der eigenen Familie auf andere Einsame, Gescheiterte und Suchende stößt.
Der Vater-Sohn-Konflikt
Sehr emotional ist auch das Werk von Falk Richter. Der Autor und Regisseur hat am Berliner Maxin Gorki Theater mit „In my Room“ ein Stück entwickelt, das sich um verschiedene Vater-Sohn-Beziehungen und ihre spezifischen Schwierigkeiten dreht. Fünf Schauspieler reden auf der Bühne über den prägendsten Mann in ihrem Leben: ihren Vater! Christine Dössel verspricht: „Es ist ein sehr empathischer Abend, zum Lachen, zum weinen, zum Nachdenken und Trauern.“
Wer zensiert die Kunst?
Nachdenklich will auch Thomas Melle mit „Ode“ machen. Das Stück beschäftigt sich mit dem Theater und der Kunst selbst. Der Autor hinterfragt was Kunst darf und vor allem, ob es noch unzensierte Kunst gibt, wenn diversitäts- und genderpolitische Korrektheit einerseits und fragwürdige Ideologien andererseits unbewusst die Kunst beeinflussen.
Schöne neue Welt?
Einem Zukunftsthema widmet sich Kevin Rittberger. „IKI. radikalmensch“ erzählt vom IT-Experten Peter Vogel, der mit einer IKI, einer Intimen Künstlichen Intelligenz in einer Partnerschaft lebt. Rieke Süßkow inszenierte das Werk am Theater Osnabrück. Die Gremiumssprecherin erklärt: „Von den Stücken zum Thema künstliche Intelligenz erschien uns das von Rittberger am smartesten, einen klugen Bogen spannend von der linken Aktivistenvergangenheit Peter Vogels über die im Stück vorherrschende Ökodiktatur bis hin zur Utopie/dystopie einer künftigen Welt, die den Menschen überwindet.“
Vorverkauf ab März
Ein spannendes Spektrum modernen Theaters. Wie immer werden die Mülheimer Theatertage - Stücke mit einem Rahmenprogramm versehen, das dem Publikum unterschiedliche Einstiegsmöglichkeiten in die Werke gibt. Dazu zählt wieder die internationale Übersetzerwerkstatt, Publikumsgespräche, der Stückeblog und die Kooperationen mit zahlreichen Hochschulen, die sich beispielsweise in der szenischen Konzeption der Spielstätten niederschlagen.
Die einzelnen Angebote werden wir demnächst hier vorstellen. Der Vorverkauf für die Stücke 2020 beginnt am Freitag, 20. März.
Autor:Andrea Rosenthal aus Mülheim an der Ruhr |
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