Stücke 2018 starten mit fulminanter Gesellschaftskritik
"Wie weit müssen wir auseinander driften bis wir uns nicht mehr hören? - Und das meine ich nicht akkustisch!" Dies war eine der zentralen Fragen in Ewald Palmtsholfers Adaption von Gerhard Hauptmanns Gesellschaftdrama "Vor Sonnenaufgang", mit dem am Samstag, 12. Mai, die Mülheimer Theatertage "Stücke 2018" eröffneten.
Es war wahrhaft ein würdiger Auftakt für die 43. Mülheimer Theatertage "Stücke 2018". Die Jury hatte mit "Vor Sonnenaufgang" von Ewald Palmetshofer eine moderne Überschreibung von Gerhard Hauptmanns bekanntem Sozialdrama nominiert. Gewählt hatte sie eine Inszenierung von Nora Schlocker am Theater Basel. Die Regisseurin hatte mit "Vor Sonnenaufgang" bereits das zweite Stück des niederösterreichischen Autoren umgesetzt und sie hat einen guten Zugang zum Stoff gefunden.
Das Bühnenbild von Marie Roth war minimalistisch: In leuchtendem Gelb mit nur wenigen Requisiten präsentierte sich das Haus der Unternehmerfamilie Krause auf der Bühne. Fünf weitgehend leere Ebenen, offene und geschlossene Türen, sichtbare und unsichtbare Räume. Nichts lenkte von den inhaltsschweren Dialogen der Schauspieler ab, vieles erging sich in Andeutungen, offen für Interpretationen.
Im Mittelpunkt standen die Dialoge, die Palmetshofer weit genug von Hauptmanns Original entfernt hatte, um dem Stück einen modernen, neuen gesellschaftskritischen Ansatz zu geben. Fast ohne Requisiten, dafür aber mit überzeugender Körpersprache und Mimik, schaffte es das Baseler Ensemble, das Publikum zu fesseln. Es war keine leichte Theaterkost, die Zuschauer mussten sich öffnen und auf die Dialoge einlassen.
Steffen Höld spielte Unternehmenschef und Familienoberhaupt Egon Krause als resignierten, alkoholkranken Mann, der seinen Platz in der Gesellschaft sucht. Vorsichtig versucht er, sich Frau und Töchtern anzunähern, steckt jedoch in der Erinnerung an der Vergangenheit fest, während die Gegenwart an ihm vorbei läuft.
Ganz anders scheint es bei seiner zweiten Frau Annemarie Krause zu sein, die Cathrin Störmer als zupackende, durchaus aktive Mutterfigur verkörpert, der zum Familienglück einzig die Akzeptanz durch die Stieftöchter und den Schwiegersohn fehlt.
Die älteste Tochter Martha, hochschwanger und sehr hysterisch, wunderbar gespielt von Myriam Schröder, ist die Figur, an der Ewald Palmetshofer das Thema von Gerhard Hauptmann Vorlage besonders deutlich aufgreift. Ist es in Hauptmanns Naturalismus noch die Alkoholkrankheit, die innerhalb der Familie vererbt wird, und deren Schicksal die Protagonisten nicht entrinnen können, so ist es bei Palmtshofer die Depression, die schon die Mutter umbrachte und nun auch die Tochter befallen hat.
Auch Helene, die jüngere Tochter, kämpft mit dem familiären Erbe. Pia Händler zeigte eindrucksvoll die Zerrissenheit ihrer Figur, die von zuhause auszog und nun zurückkommen musste, um ihrer Schwester bei der bevorstehenden Geburt beizustehen. Im Verlauf des Stücks zeigt es sich, dass ihre Flucht sowieso gescheitert war. Ihr Unternehmen ging pleite, Helene war obdachlos. Aber sie gibt nicht auf, lässt sich mit dem Journalisten Afred Loth (Simon Zagermann) ein, der als verkörperte Unplanbarkeit die festen Familienstrukturen aufmischt. Es ist bezeichnend, dass dieser am Ende flieht, während Helene in der Familie gefangen bleibt.
Michael Wächter verkörpert Thomas Hoffmann, Marthas Ehemann, die Figur, die für Palmetshofers Gesellschaftskritik steht. Er zeigt den Mittelstand als die Schicht, die ihren ererbten Status als natürliches Recht missversteht. Die glaubt, eine goldene Zukunft müsse zwingend aus der Vergangenheit entstehen. Thomas lässt sich nur symbolisch und von oben herab auf seine Mitmenschen ein, wie Alfred Loth immer wieder entlarvend zeigt.
Beinahe nur eine Nebenrolle, aber in der Schwere der Dialoge fast unübertroffen, hat Thiemo Strutzenberger als Dr. Peter Schimmelpfennig. Er fasst die Unabänderlichkeit des Schicksals zusammen. Letztlich mündet doch alles im Tod. Wortreich verbindet der Doktor die Thesen Hauptmanns mit denen Palmetshofers. Und wenn am Ende des Stücks ein fulminanter Sonnenaufgang das ganze Ausmaß der Katastrophe zeigt, kann man Gerhard Hauptmann nur zustimmen: "Erschütternd, dass es für das Leben wie es ist, nicht bessre Gründe gibt."
Ewald Palmetshofer, der schon 2015 den Mülheimer Dramatikerpreis gewann, ließ nach zweieinhalb aufwühlenden Stunden Theaters ein nachdenkliches Publikum zurück. Ein gelungener Auftakt zu den Stücken, der Lust auf mehr macht.
Am Samstag, 19. Mai, um 19.30 Uhr hebt sich in der Stadthalle der Vorhang zu Ibrahim Amirs "Homohalal". Das Stück beschäftigt sich mit Integration bis hin zur volständigen Anpassung. Karten für das Drama des Stücke-Debütanten gibt es ab 24 Euro online unter www.reservix.de oder bei der Touristinfo im Medienhaus.
Weitere Informationen zu den Stücken und Kinderstücken findet man auf www.stuecke.de.
Autor:Andrea Rosenthal aus Mülheim an der Ruhr |
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