„Hautnahe“ Premiere im Theater an der Ruhr ist ein „Gesellschafts-Fressen“
Sinnsuche zwischen Skandal und Dekadenz
Zwei Autoren, zwei Theaterstücke, zwei Zeitepochen, eine Premiere. Wenn am Donnerstag, 27. Februar, die neue Produktion „Unterwerfung / Gegen den Strich“ erstmals im Theater an der Ruhr zur Aufführung kommt, ziehen sich Begriffe wie Skandal und Dekadenz als roter Faden gesellschaftlicher Auswüchse und deren Folgen durch die Inszenierung von Philipp Preuss. Und die hat es in sich.
Preuss verarbeitet zwei literarische Vorlagen, die bei ihrer Veröffentlichung für Kritik, Empörung und Aha-Effekte sorgten, zu einer Einheit, die ihrerseits für Zwiespalt sorgt. Die Protagonisten aus aus Joris-Karl Huysmans Dekadenzroman „Gegen den Strich“, erschienen 1884 (!), und Michel Houellebecqs Skandalroman „Unterwerfung“ aus dem Jahr 2015 sitzen beide an reich gedeckter Tafel. Sie verzehren nicht nur die angebotenen Speisen, sondern vielmehr sich selbst nach etwas, das ihren Hunger nach Sinn stillt.
Verzwefelt und geradezu zynisch hat bei Huysman ein gewisser Jean Floressas Des Esseintes, der magenkranke Adelsspross mit Hang zum Spleen und etlichen Macken mit der Welt abgeschlossen. Das hat bei Houellebecq auch Francois, ein abgehalfterter Professor für Literatur mit triebhafter Vorliebe für junge Studentinnen. Während der eine im zu Ende gehenden 19. Jahrhundert den radiaklen Rückzug aus der Gesellschaft genießt, vollzieht und geradezu zelebriert, sieht sich der andere in der „Ist-Zeit“ einem fundamentalen Systemwandel unter dem Vorzeichen des politischen Islam gegenüber. Regisseur Preuss und Dramaturg Helmut Schäfer bezeichnen die Doppelsinszenierung im Haus am Raffelbergpark als ein „europäisches Menü in zwei Zeiten und fünf Gängen.“
Die Zuschauer nehmen an der Mahlzeit der Gedankengänge, Rück- und Ausblicke, Interpretationen und Konsequenzen hautnah teil. Sie sitzen mit den Schauspielern an einem Tisch, ohne Angst haben zu müssen, in die Dialoge einbezogen zu werden. Sie sind halt Tischnachbarn, die Augen- und Ohrenzeugen beißender Geselschaftskritik werden. Zu essen gibt es während der Aufführung übrigens auch etwas.
Verachtung bürgerlicher Realitäten
Philipp Preuss: „Beide Romane spiegeln sich. Es wird das gängige Konsumverhalten definiert, die Sinn-Suche ist eine Folge der Verachtung bürgerlicher Realitäten.“ Die zwei Romane stammen zwar aus verschiedenen Jahrhunderten, bilden aber gedankliche Einheiten und zeigen deutliche Parallelen auf. Beide Romanprotagonisten wehren sich, geben sich auf, kapseln sich ab oder schlucken den Zeitgeist. Ein Wirrwarr der Gefühle und individuellen Empfindungen wird plötzlich zu einer fast absurden Einheit.
Die Grundidee der Inszenznierung von Philipp Preuss mutet einfach wie genial an. Alle, Zuschauer und Akteure, sitzen an einem Tisch. Das Bühnenbild von Ramallah Aubrecht ist so konzipiert, dass sich alle um die Mitte herum gruppieren, in einem grünen Raum als Anspielung auf die arabische Revolution, den sogenannten arabischen Frühling.
Videos, Musik und Rollenwechsel
Es gibt Videos, die dafür sorgen, dass sich der Raum stets verändert. Die Musik von Kornelius Heidebrecht wurde eigens für die Mülheimer Inszenierung komponiert. Die Mischung aus westlichen und orientalischen Klängen charakterisiert die Inhalte zweier verschiedener Epochen. Den Jeam Floressas spielt Felix Römer von der Schaubühne Berlin, dem Francois verkörpert Petra van der Beek. Besonderer Clou: Gelegentlich wechseln beide ihre Rollen. Die Einheit der beiden unterschiedlichen Stücke in einem Handlungs- und Gedankenkontext und einer „Regiehand“ versprechen Spannung.
Nach der Premiere am Donnerstag stehen weitere Aufführungen am 28. und 29. Februar sowie täglich vom 5. bis 8. März auf dem Spielplan.
Autor:Reiner Terhorst aus Duisburg |
Kommentare
Sie möchten kommentieren?
Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.