"Stücke 2021" nehmen Gestalt an
Kultur trotz(t) Corona
Festivalplanung in Zeiten der Corona-Pandemie – man kann sich kaum etwas Unsichereres vorstellen. Und dennoch arbeiten Stephanie Steinberg und das Team des Mülheimer Theater und Konzertbüros mit Hochdruck an der Organisation der 46. Mülheimer Theatertage - Stücke 2021.
Von Andrea Rosenthal
Seit 1976 blickt die deutschsprachige Theaterszene jedes Jahr im Mai nach Mülheim. Im Rahmen der Mülheimer Theatertage „Stücke“ werden hier sieben bis acht Stücke in der wirksamsten Aufführung, meist der Uraufführung, gezeigt. Die Auswahl trifft ein unabhängiges Gremium aus den in der jeweiligen Saison uraufgeführten deutschsprachigen Stücken. Am Ende der Theatertage vergibt eine Jury aus Kritikern und Theaterschaffenden den mit 15.000 Euro dotierten Mülheimer Dramatikerpreis an den besten Autor oder die beste Autorin.
Im Kulturhauptstadtjahr 2010 kamen die KinderStücke hinzu. Fünf Aufführungen für Kinder zwischen sechs und zehn Jahren sollen auch diesmal wieder in Mülheim gezeigt werden. Auch hier wird das beste Werk mit 15.000 Euro belohnt.
Treffen sich normalerweise Organisatoren, Schirmherrin, Jury und Journalisten im Theater an der Ruhr, um das Geheimnis um die Nominierungen zu lüften, so konnte die Präsentation der Stücke-Teilnehmer diesmal Corona-bedingt nur per Videokonferenz erfolgen. Auch die Sichtung der Aufführungen durch die Jury konnte aufgrund der Pandemie nur teilweise in den Theatern erfolgen. Obwohl die Theater nur im Februar und März sowie September und Oktober 2020 geöffnet waren, sichtete allein die Stücke-Jury 87 Werke. Sieben davon haben es auf die Nominierungsliste geschafft, darunter wieder einige bekannte Autoren.
Die Nominierten
Ewelina Benbenek wurde mit "Tragödienbastard" in einer Inszenierung des Schauspielhaus Wien vorgeschlagen. Die Berliner Autorin mit polnischen Wurzeln beschreibt das Leben einer Frau, die durch die Gnade der späten Geburt und die Migration und harte Arbeit ihrer Eltern ein viel freieres Leben führen kann als diese.
Ein weiteres Stück, das sich um das Leben aus der Sicht einer Frau dreht, ist Sibylle Bergs Werk "Und sicher ist mit mir die Welt verschwunden". Es ist der vierte Teil einer Tetralogie, deren zweiter Teil "Und dann kam Mirna" ebenfalls schon in Mülheim zu sehen war. Das Stück wird in einer Fassung des Maxim Gorki Theater Berlin, die am 24. Oktober uraufgeführt wurde, gezeigt. Die Protagonistin will so gar nicht verstehen, warum ihre Tochter so anders ist als sie und zieht eine beinahe sarkastische Bilanz ihres Lebens. Sebastian Nübling hat die sarkastische Lebensbilanz einer noch ziemlich lebendigen Frau als Ladyquartett inszeniert. Anastasia Gubareva, Svenja Liesau, Vidina Popov und Katja Riemann sind mit Rollatoren unterwegs und dirigieren mit den eingebauten Synthesizern das eigene Leben. DJ’s, die bei sich selbst angekommen sind und ein Frauendasein orchestrieren.
Die Rolle der Frau
Die Rolle der Frau und ihre Entwicklung ist ebenfalls Thema in Rebekka Kricheldorfs "Der goldene Schwanz". Das Staatstheater Kassel zeigt die komödiantische Aschenputtel-Variante, die gekonnt die Klischees von Mann und Frau auseinandernimmt.
Ein zweiter Schwerpunkt der Stücke ist der Bereich Geschichte und und ihre Auswirkungen auf die Gegenwart, besonders die Entwicklung rechtsextremer Tendenzen.
Thomas Freyer erzählt in "Stummes Land", inszeniert fürs Staatsschauspiel Dresden, von vier ehemaligen Schulfreunden um die vierzig – intellektuelles, tendenziell kosmopolitisches Milieu – die endlich mal wieder Zeit für einen gemeinsamen Abend gefunden haben. Esthers Kochkünste werden gelobt, frühere Flirts reaktiviert und Nachwendeerfahrungen memoriert. Bis unter exzessivem Weingenuss sorgsam verborgene Abgrenzungstendenzen zutage treten: Ein ausgeprägtes „Wir-Die“-Bewusstsein zeigt sich, teilweise bis hin zum Rassismus. Schnell entwickelt sich Thomas Freyers (Post-)DDR-Porträt vom Konversations- zum historischen Tiefengrabungsstück.
Die Wurzel des Übels
Ebenfalls ein geschichtliches Thema hat Rainald Goetz' "Reich des Todes". Es geht um ein fiktives Königreich, in dem immer wieder die politischen Entwicklungen der USA nach 9/11 durchklingen. Das Deutsche Schauspielhaus Hamburg arbeitet sich in „Reich des Todes“ durch Hinterzimmer-Politiken und Folterszenen und fragt dabei unermüdlich nach dem Systemversagen des Westens, den Gründen von Hass und Macht.
Den Ursprung der Querdenker-Bewegung skizziert Boris Nikitin in "Erste Staffel. 20 Jahre Großer Bruder". Dabei greift der Baseler Autor auf die Technik der Zitat-Collage zurück. Für sein Werk hat Boris Nikitin Originalzitate des Fernsehformats "Big Brother" genutzt und so kombiniert, dass eine politische Querlage deutlich wird. Stephan Reuter vom Stücke-Auswahlgremium schreibt dazu: "(...) zum Beweis, dass mit diesem Format gleichsam die Ursuppe populistischer Querdenkerei angerührt wurde. So ereifert sich ein WG-Genosse über fortschreitende Entmündigung in Zeiten der Maskendebatte." Erstmals gezeigt wurde das Stück am 19. September im Staatstheater Nürnberg.
Die Münchner Kammerspiele haben Christine Umpfenbachs "9/26 - Das Oktoberfestattentat" gezeigt. Die Autorin hat für ihr Stück Interviews von Überlebenden benutzt und die Arbeit der Ermittler kritisch hinterfragt.
Autor:Andrea Rosenthal aus Mülheim an der Ruhr |
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