Ein Ausflug
Linas Ausflug der Sinne
Das Kinn auf ihre, an den Brustkorb herangezogenen Knien gestützt, hockt sie im Schatten der alten Akazie an dem kleinen Wehr, der dem ruhigen Bächlein ein wenig mehr Fließgeschwindigkeit verschafft. Sie beobachtet das muntere Spiel der Insekten in den vereinzelten Sonnenstrahlen, die sich durch das dichte Blätterdach des Baumes zwängen.
Hin und wieder verirren sich ein paar Tropfen des aufschäumenden Wassers auf ihrer Nasenspitze. Wenn sie ihr über die Haut laufen und die feuchten Spuren während des Trocknens ein leichtes Kribbeln darauf hinterlassen, gleitet ein Lächeln über ihr feines Gesicht.
So oft sie kann, kommt Lina an diesen Ort. Sie sitzt dann mitunter stundenlang hier und vergisst wie die Zeit um sie herum verstreicht. Schon als Kind ist sie hier her gekommen, wenn sie mit sich allein sein wollte. Ihre Mutter hat sie dann vielmals gesucht und nicht gefunden. Mit niemandem hat sie je über ihr Versteck gesprochen, um immer wieder einen Ort der Ruhe vorfinden zu können, wenn sie danach suchte.
Die Hektik ihrer großen Familie wurde ihrer zarten Seele manchmal zu laut. Wenn ihre Mutter versuchte sich gegen die Eigenwilligkeit der sechs Kinder zu behaupten. Jedoch zu schwach war, um sich durchsetzen zu können. Lina hatte das sanfte Gemüt und das zarte Wesen ihrer Mutter geerbt.
Ihr Vater arbeitete viele Stunden im Tagebau und wenn er abends zurück kam, hatte er nicht viel Zeit für seine Familie. Er sah seine Aufgabe darin, sie zu ernähren und für ein Dach über dem Kopf zu sorgen. Diese Umstände führten dazu, dass Lina sich ihre eigene Welt zauberte und darin ganz und gar versinken konnte. Sie wurde von Eltern und Geschwistern als Träumerin abgetan und man ließ sie in Ruhe.
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Ein funkelndes Meer von Brillanten glitzert auf der Wasseroberfläche. Sie scheinen mit dem Murmeln und zischen des fallenden Wassers hinab gezogen und weggetragen zu werden. Immer wieder neue entstehen so und folgen dem gleichen Fluss. Lina möchte einer von ihnen sein. Ihre Sinne sind berauscht durch den beständigen Weg. Sie schaut den immer wieder neu entstehenden Tropfen und Blasen sehnsuchtsvoll hinterher und ihre Sinne lassen sich zu ihnen fallen.
Sie fühlt sich rein und klar. Prickelnd und leicht tanzt sie ausgelassen, manchmal sich überschlagend, auf dem dahin fließenden Bach. Vorbei geht es an, ins Nass getauchte Halme, an Blütendolden die kleine Schmetterlinge tragen.
Hoppla- da lag ein großer Findling, der das Wasser teilte und Lina etwas herb zur Seite drängte, so dass sie mit einigen Anderen einen großen Blasenverbund bildete, den der nachfolgende Strom aber bald wieder auflöste und jeder einzeln seinen Weg fortsetzte. Es gab so viel zu sehen.
Sie schaut auf die flinken Forellen unter sich, deren Schuppenkleid im grellen Sonnenlicht in allen Farben des Regenbogens schillert. Sie halten die Geschwindigkeit des Flusses mit. Zwinkernd nimmt Lina den Kontakt zu einer von ihnen auf. Sie begleiten sich nun spielend. Wenn der Fisch zeitweise aus dem Wasser springt, verdrängt er Lina unter die Wasseroberfläche und sie wird ein Teil des fließenden Wassers. Dann aber taucht sie unter munterem Glucksen wieder an der Oberfläche auf und nimmt wieder Gestalt an. Sie ist glücklich und genießt ihre rasante Reise.
Bunte Libellen begleiten, wie Elfen mit zarten Gesängen, ihren Weg. Eine Biegung versperrt die Weitsicht. Was mag sich wohl dahinter verbergen? Leicht tänzelnd und sich immer wieder überschlagend kommt sie in der Kurve an. Sie stößt mit anderen Bläschen zusammen, die dort schon vor ihr angekommen waren und zusammen werden sie ein großes Schaumgebilde. Ein lustiges Wispern der vielen Stimmen entsteht. Immer wieder werden einige von ihnen aus dem Bund entlassen und neue kommen dazu. Alle haben viel über ihre Reiseerfahrungen zu berichten. Es ist ein schöner, unterhaltsamer Aufenthalt für Lina. Aber bald schon drängt es sie weiter. Der nachfolgende Wasserdruck spült sie aus dem Bachbogen heraus und treibt sie vor sich her.
Weiter geht es im rasanten Tempo. Das Wasser fließt eine sanfte Anhöhe hinunter und die Fahrt gewinnt an Geschwindigkeit. Jauchzend, voller Lebensfreude lässt Lina sich treiben. Saftiges Grün der Ufer macht den Weg zum Erlebnis. Fleißige Insekten die Nahrung sammeln, beobachtet sie und Enten die mit im Gefieder versteckten Köpfen ihren Mittagsschlaf halten.
In einem zum anderen Augenblick erfährt ihr idyllischer Ausflug jedoch eine abenteuerliche Wende. Kurz vor ihr taucht blitzschnell und pfeilgerade ein langer Schnabel in den murmelnden Bach ein. Sie ist erschrocken. In Sekundenschnelle ist er auch schon wieder verschwunden und mit ihm ihre Freundin, die Forelle. Leicht drehend sieht sie sich nach dem Spuk um und sieht einen Vogel mit leuchtend blauem Gefieder ihre Freundin davon tragen. Sie überschlägt sich ein paar Mal und wird ans Ufer gedrückt. Ein nachfolgend treibender Ast drängt auf sie zu und spießt sich in ihre Hülle. Dem Druck kann Lina nicht standhalten und löst sich in viele kleine Spritzer auf, die am Ufer liegen bleiben und die grünen Halme benetzen. „Ist das nun das Ende“? Beginnt sie sich zu fragen. Andererseits macht sie dies so glücklich: „Nein, ich sterbe nicht – mein Leben findet eine Fortsetzung in all den Gräsern, die ich mit meiner Feuchtigkeit versorge. Alles beginnt zu verschwimmen und sie hört ihren Namen. Jemand ruft nach ihr.
Lina“!!!! „Lina, hörst du nicht“? Sie braucht einen Augenblick, bis sie zurückkehren kann. Immer und immer wieder hört sie ihren Namen. Langsam kehrt das Bewusstsein zurück. Es ist die Stimme ihrer Schwester die sie ruft. Mit ihr besucht sie die Stätte ihrer Kindheit in diesem Urlaub.
Sie streckt Ihre Beine aus und lässt die nackten Füße noch einmal ins Wasser gleiten um ihrem Traum ein letztes Mal nahe zu sein. „ Ich bin hier“, ruft sie zurück und beschreibt den Platz, an dem sie sich aufhält, damit ihre Schwester sie finden kann. Sie gibt ihr Versteck preis und nimmt endgültig Abschied von der Kindheit. Den Ausflug ihrer Sinne indes behält sie für sich. Diese Art von Ausflügen würde niemand verstehen und sie vielleicht für verwirrt erklären.
Die Eigenschaft in die Welt der Sinne abzutauchen hat sie sich jedoch erhalten. Sie kann wann immer sie möchte, die Reisen ohne Grenzen antreten und niemand fragt sie nach ihrer Legitimation.
Ende
Autor:Dagmar Senff aus Mülheim an der Ruhr |
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