Bertolt Brecht und Mülheim
Egoismus oder Gemeinsinn - was siegt?
"Von jetzt ab und eine ganze Zeit über wird es keine Sieger mehr geben auf unserer Welt, sondern nur mehr Besiegte", weiß die Titelfigur von Bertolt Brechts Drama Fatzer. Das wenig bekannte Werk kommt bald auf die Mülheimer Bühne.
Von Andrea Rosenthal
Weise Worte, die gerade heute so aktuell sind wie lange nicht. Nur einer der Gründe warum die Vier-Allianz-Ruhr, ein Kollektiv aus Theater an der Ruhr, Ringlokschuppen und den Mülheimer Theatertagen, den Fatzer nun gemeinsam inszeniert.
Seit drei Jahren existiert die Vier-Ruhr-Allianz aus den drei Institutionen, die gemeinsam etwas Viertes erschaffen wollen. Am Freitag, 14. Oktober, soll "Ein Mensch wie ihr!" Premiere haben. Weitere Aufführungen wird es am 15. Oktober und 3. und 4. November, jeweils um 19 Uhr geben.
Drei erschaffen das Vierte
Drei Künstler erarbeiten je 45 Minuten rund um Brechts Fatzer. Gemeinsam gehen sie der ewigen Frage nach: Ist der Mensch nun „von Natur aus gut“ oder doch „des Menschen Wolf“?
Die Choreografin Rafaële Giovanola, die oft im Ringlokschuppen arbeitet, nähert sich dem Thema die Gruppe und der Einzelne von der körperlichen Seite.
Philipp Preuss, Dramaturg am Theater an der Ruhr, hält sich eng an die Fragmente von Bertolt Brecht, löst sie aus dem zeitlichen Kontext und bringt sie auf die große Bühne der Stadthalle.
Die Mülheimer Theatertage konnten die Autorin Christine Umpfenbach zur Mitwirkung gewinnen. Sie hat das Grundthema Krieg und Flucht beziehungsweise Kriegsverweigerung in zahlreichen Interviews mit betroffenen Mülheimern erarbeitet. Diese persönlichen Schicksale verwebt sie gekonnt mit Brechts Fatzer und hebt ihren Text so in die heutige Zeit.
Szenische Reise
"Bei der Aufführung laufen alle Teile zeitgleich im Kammermusiksaal der Stadthalle, im Ruhrfoyer und auf der großen Bühne", erklärt Stephanie Steinberg, Leiterin der Mülheimer Theatertage. "Das Publikum wechselt in Gruppen geführt nach jeweils 45 Minuten den Raum. So soll eine Reise durch die drei Teile entstehen, die dann im vierten, dem großen Chor, mündet." Am Ende der Reise könnte ein großes Fest der Gemeinschaft stehen. Etwa 600 Zuschauer pro Abend können an diesem Erlebnis teilhaben.
Der große Mitmach-Chor
Den Anstoß zum Chorprojekt gab Christine Umpfenbach, die den Text schrieb. Auch er erzählt von Mülheimer Schicksalen. Gijs Burger, Leiter der Petri-Singschule, und Thorsten Töpp, Duisburger Komponist, zeichnen verantwortlich für die musikalische Umsetzung. Und sie suchen noch Stimmen für den Chor. "Es muss nicht jeder singen können, alle sind willkommen", erklärt Gijs Burger. "Die Herausforderung für mich sind die vielen Einzelstimmen und alle zu ermutigen, sich nicht in der Gruppe zu verstecken." "Am Ende soll auch das Publikum durch den Chor animiert werden, mitzumachen", hofft Stephanie Steinberg.
Wer sich dem Projekt anschließen möchte, kann sich noch bis Dienstag, 13. September, melden unter info@vier.ruhr oder Tel. 0170-8517494. Geprobt wird immer dienstags von 18.30 bis 19.30 Uhr in der Petrikirche.
Ein Anstoß für die Region
Mehr als 60 Aktive werden am Ende auf den drei Bühnen der Stadthalle stehen. Einige Profis, aber vor allem Mülheimer. Menschen mit Fluchthintergrund aus Syrien, Bosnien, Kamerun oder der Ukraine. Menschen, in deren Familien es Geschichten zu Kriegsdienstverweigerung und Desertation gibt. Sie alle stellen sich der Frage: Wie ist das Verhältnis von Egoismus zu Gemeinsinn? Wie weit kann individuelle Freiheit gehen, wenn sie damit das Leben anderer gefährdet?
"Mit unserem Projekt wollen wir etwas für die Region lostreten", berichtet Sven Schlötcke vom Theater an der Ruhr. Die Aktualität von "Ein Mensch wie ihr" war bei den ersten Planungen noch nicht abzusehen, denn den Krieg in der Ukraine gab es noch nicht. Doch viele der Beteiligten haben neben ihrem künstlerischen Schaffen engeren Kontakt zu Menschen mit Fluchthintergrund und kennen ihre Schicksale. Sven Schlötcke meint: "Auch wenn er sicher eine wichtige Bedeutung hat, sehe ich den Krieg, das Desertieren und das Überleben eher als Metapher für die Verantwortung, die jeder Einzelne für die Gesellschaft hat. Die Grundfrage, der wir uns stellen müssen ist das Funktionieren des Gemeinwesens. Das ist die größte Aufgabe der Menschheit."
"Ein Mensch wie ihr" bietet viele Denkanstöße, um sich dieser Frage zu stellen. Tickets gibt es nach dem „Pay what you want“-Prinzip in der Staffelung 8, 10, 15, 20 (Normalpreis), 25, 30, 35 oder 40 Euro ab sofort auf www.vier.ruhr .
Autor:Andrea Rosenthal aus Mülheim an der Ruhr |
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