Auch Beethoven gierte über den Rhein
Die „Fliegende Brücke“ zu Bonn

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So gerne wie ich bei der Beschreibung der Historie meiner Phantasie freien Lauf lasse und mich am Selbsterfundenen berausche, die nüchternen Fakten möchte ich doch kennen. Meine Phantasie soll ihre üppigen Blüten nicht aus Unwissenheit treiben, sondern im besten Wissen um die wahrscheinlichen Gegebenheiten doch reizvollere Alternativen erzählen.
In meiner Graurheindorf-Geschichte z. B. lasse ich Beethoven nach Bonn-Castell spazieren, weil ich es bin, der dort aufgewachsen ist und wir beide als Bonngeborene in unmittelbarer Nähe zum Rhein unsere Kindheit verbrachten. Was für mich relativ neu war, weil ich glaubte, er habe immer in seinem Geburtshaus in der Bonngasse gewohnt.
An einer Stelle dieser fiktiven Geschichtsschreibung bezweifelte ich nun, dass es zu seiner Zeit überhaupt schon einen Fährbetrieb gegeben habe. Ich hielt das eigentlich für nicht mehr sicher zu klären und betrachtete es als eine exklusive Angelegenheit von Spekulation. Trotzdem ließ es mir keine Ruhe. Dann kam die Aufklärung überraschend schnell und einfach. Es steht nämlich so einiges dazu  im Netz. „Fähre“ und „Bonn“ reichen als Suchwortgespann vollkommen aus.
Man erfährt, dass bereits im 17. Jh. eine Gierponte zwischen Vilich und Bonn verkehrte und kann sich eine „Fliegende Brücke“ von 1673 sogar als Zeichnung von 1676 ansehen. So eine Gierseilfähre, mit der man in 10 Minuten übersetzte, gab‘s in vielen Rheinorten.
Was ich als Exil-Bonner auch nicht wusste: Am Beueler Ufer (Nähe Nepomukplatz) erinnert eine Tafel an die Bonner Urfähre. Das ist sehr nett, nur aus der Erklärung wird man schwerlich gleich ihr Funktionieren begreifen.
Das Seil wird stromaufwärts verankert und über schwimmende Bojen (Buchtnachen, kleine Boote mit Masten) zur Fähre geführt, dort verzweigt und seitlich verschiebbar befestigt oder über eine "Laufkatze" eines hohen Balkengerüstes auf der Fähre geleitet, um das gegen die Strömung gesteuerte Boot wie ein Pendel quer zum Fluss bewegen zu können. Alles klar?
Nun, ob Beethoven diese geniale „Fliegende Brücke“ jemals benutzt hat, wissen wir damit aber noch nicht. Der Rheingässler und Bäckermeister Fischer erzählt viel über Ludwigs Jugend, aber davon rein gar nichts. Er bestätigt zwar eine Reise nach Bensberg (1781), die Ausschmückung des Reiseweges u.a. mit der Erwähnung der Bonner Gierponte stammt allerdings vom bergischen Heimatforscher Willy Daubenbüchel (1992), der dazu auch noch eine Zeichnung lieferte.

Foto: W. Daubenbüchel

Zwei Jahre nach Beethovens Aufbruch nach Wien verabschiedete sich Kurfürst Max Franz franzosenbedrängt aus Bonn, fuhr zum Rhein, „wo er auf einer Gierponte übersetzte“. So jedenfalls laut Paul Zurnieden in „Bonner Geschichte(n)“.
Möglichweise war die (verschiebbare?) Anlegestelle sogar in Nähe der Rheingasse, also direkt vor Beethovens Nase. 1825 benutze sie jedenfalls die Familie Mockel von der Josefstraße, deren Tochter Johanna, spätere Ehefrau Gottfried Kinkels aus Oberkassel, beim gleichen Lehrer wie einst Ludwig Musikunterricht bekam: Franz Anton Ries. Aber Beethoven war da schon 33 Jahre in Wien. Geht man vom Fußweg „An der Gierponte“ in Beuel aus, war der Anlegeplatz auch in Bonn vielleicht doch nördlich der Brücke.
Die Kinkels sind übrigens ein gutes Beispiel nicht nur für die demokratische Strömung, die damals durch das Land wehte, sondern auch für die noch kraftvollere des guten alten Rheins. Während ihre Köpfe zu den führenden gehörten, wären sie samt denselben beinahe in der anderen versunken. Ein Dampfboot hatte in der Dunkelheit ihren Kahn gestreift, den Gottfried aus Oberkassel mit Hilfe der Strömung flott nach Bonn zu rudern gedachte. Sie konnten sich retten und kamen sich dabei erstmals körperlich näher, sodass man mit Fug und Recht sagen kann, dass es ohne die Strömung weder eine „Fliegende Brücke“ noch ein Ehepaar Kinkel gegeben hätte.
Wären sie zwei-drei Jahre später in den Rhein gefallen (1845), hätten sie an dem Dampfboot womöglich noch den Namen „Beethoven“ lesen können. Das wurde nämlich just zum ersten Beethovenfest in Dienst gestellt.
Und ohne diese Gierseilfähre wiederum hätte es 1849 keinen Revolutionsmarsch von Bonn nach Siegburg geben können, an dem Gottfried Kinkel und Carl Schurz als Rädelsführer einen großen Anteil hatten. Die Bonner Revolution scheiterte kläglich, was aber eher Kinkel & Co als der Fliegenden Brücke angelastet werden kann. Sie hatten schlicht vergessen, die Fähre hinter sich für die nachsetzenden Dragoner ungierbar zu machen.
Johanna Kinkel hat später im Exil in London in einem langen Gedicht Bonn und London verglichen. Darin kommt auch die Bonner Gierponte vor:
In der Stadt Bonn um halber zwei
Hat just die Brück geläut‘:
„Geschwind ihr Kinder an den Rhein,
Wir geh‘n nach Limperich heut!“

Aber was hat das nur mit dieser „Gier“ für eine Bewandtnis? Da gibt‘s ein wunderbares Wiki zu „Gierachse“: Gieren kommt hier vom Adverb „gerne“ und bedeutet ein Begehren; in unserem Fall das Verlangen oder Bestreben, vom Kurs abzuweichen. Da die (motorlose) Gierponte gegen die Strömung gesteuert wird, „giert“ sie natürlich, versucht auszubrechen, und würde ohne das Seil flussabwärts getrieben.

Foto: Wikipedia

Man kann es aber auch von ndl. gieren (sprich: chieren ) ableiten. Als Erfinder gilt nämlich der Niederländer Hendrick Heuck aus Nijmegen, der das 1657 weiter oben in einem Rheinarm (Waal) ausprobiert hat.

Das niederländische „gieren“ wird allerdings in jeder Beschreibung anders übersetzt: bewegen, drehen, schräg halten, schräg stehen, sausen. Nach letzterem wäre eine Gierponte eine „Sausebrücke“, was dem gebräuchlichen deutschen Ausdruck „Fliegende Brücke“ und dem französischen Pendant „pont volant“ entsprechen würde. Jedenfalls hat man damals das Gefährt nicht als Fährschiff, sondern immer als bewegliche Brücke empfunden.
Wer es am besten im Film versteht, für den gibt’s im Internet einiges unter „Gierseilfähre“ zu sehen. Ich persönlich finde die Sachgeschichte (ohne Maus) geradezu ideal; die fahren dafür extra in die Sächsische Schweiz, wo man die Fähre bei ihrer Bewegung nämlich vom hohen Berg herunter beobachten kann. Obendrein bastelt der gute Armin Maiwald auch noch ein funktionstüchtiges Papier-Modell.
https://kinder.wdr.de/video-sachgeschichte---deutschlandreise-gierseilfaehre-100.html
In Wirklichkeit bewegt sich das Boot aber nicht nur seitlich, sondern gleichzeitig auch um seine Längsachse=das Rollen und Querachse=das Stampfen.
Die Kombination aller drei Bewegungen nennt man Schlingern! Das gibt’s bei jedem Fahrzeug, ob zu Lande, zu Wasser oder in der Luft. Und in der Geschichtsschreibung! Ach, was ist das für ein ständiges Schlingern zwischen Phakten und Phantasie!

Bei aller technischen wie ökologischen Begeisterung für das schlichte Funktionsprinzip der Gierponte darf natürlich nicht vergessen werden, dass sie die übrigen Schiffe zum Einbahnstraßenverkehr zwingt und bei Niedrigwasser und Eisgang ausfällt.
Ein besonderer Genuss ist es aber, sich das Gierponten-Weltkulturerbe von einem bonngeborenen Zeitzeugen, der Schriftsteller wurde, literarisch erklären zu lassen. Wilhelm Schmidtbonn, geboren 1876, schreibt in seinem Bonn-Roman „Der dreieckige Marktplatz“:

„Wie bewegt sich das Ding? Ohne Maschine?“ fragte er Baß, der ihm alles zu wissen schien. „Du siehst diese lange Reihe von Nachen, die unsere Fähre wie einen Schwanz anhängen hat. Aber der letzte, siehst du, ist mitten im Strom fest verankert. So kann die Strömung die Fähre immer schräg treffen und, ohne Zutun des Menschen, von Ufer zu Ufer reißen. Die ersten Menschen, die diese Fähre anwandten, kannten dieses Gesetz vielleicht nicht einmal. Jedenfalls sind diese Fähren schon seit Urzeiten in Gebrauch. Wenn du solch ein Schiff Ponte nennst, so gebrauchst du, ohne es zu wissen, den altrömischen Namen.“

PS.

1.Mein phantasiegeborener „Beethoven-Spaziergang nach Graurheindorf“ gewinnt reale Züge durch die Entdeckung eines alten Mühlenfotos von 1890. Es sollen in Graurheindorf in alter Zeit stets mehrere Mühlen am Rhein gestanden haben. Das wäre ja ein realistisches Wanderziel gewesen.
Die Mühle ganz rechts im Stadtpanorama auf der alten Zeichnung von 1676 stand allerdings schon in Höhe Stiftskirche. Eine Straße „An der Windmühle“ erinnert daran.

2. Von einer der letzten Gierponten in Bonn existiert sogar ein Foto. Das Giertor hat leider nichts mit der Gierseilfähre zu tun. Sein Name bezieht sich auf eine 1258 erbaute Gertrudiskapelle ganz in der Nähe. „Gier“ soll im damaligen Bönnsch Platt „Gertrud“ geheißen haben.

3. Buchstäblich in letzter Sekunde vor der ersten Veröffentlichung dieses Textes erziele ich unverhofft einen Treffer bei Alexander Wheelock Thayer: „Der hübsche Landungsplatz mit seinen heranwachsenden Bäumen und seinen Sitzen für Müssiggänger, die Villen, Hotels, Kaffeehäuser und Wohnungen außerhalb der alten Wälle sind sämmtlich neu, aber der große Fährnachen die „fliegende Brücke“ schwebte auch damals schon gleich einem Pendel von Ufer zu Ufer.“ Das Zitat findet sich im 1. Band seiner Beethoven-Biografie, der zuerst 1866 erschien. Das Kapitel ist überschrieben mit „Die Stadt im Jahre 1770“.
Beethoven lebte 22 Jahre in Bonn. Es wäre höchst unwahrscheinlich, wenn er die Ponte während der gesamten Zeit nicht einmal benutzt hätte. Man weiß, dass damals für junge Leute Beuel sehr attraktiv war, da man dort unkontrolliert „einen draufmachen“ konnte.

4. Anders verhält es sich mit Franz Liszt, Lola Montez und Queen Victoria, die zur Einweihung des Betthovendenkmals 1845 nach Bonn gekommen waren.
Die Queen hätte sicher die Ponte genommen, wenn sie schon mit einem Flugzeug auf dem Flughafen Köln-Wahn hätte landen können. Sie kam aber wohl mit einem Schiff bis Köln. Auf dem Schiff war u.a. eine Kuh für ihre Frühstücksmilch. Franz Liszt verbrachte die Sommermonate 1841 bis 1843 bereits am Rhein. Er hat sie sicher mehrfach genutzt. Später ließ er sich auf Nonnenwerth nieder.
Wie schön aber wäre es erst gewesen, wenn die aufregende Lola Montez ihren „El Oleano“ auf der Ponte getanzt hätte!

5. Das sollte eigentlich der Schlusspunkt des Postskriptums sein. Dann bekam ich Kontakt zum Beueler Schiffer-Verein 1862 e.V. mit der für mich aufschlussreichsten Schrift: „Die Kurfürstliche Gierponte 1673 – 1794“. Nach der Lektüre blieb fast keine Frage mehr offen. Überdies ziert das Buch zum 150. Geburtstag des Vereins auf dem Einband eine Abbildung einer Gierponte.
Vom Bonner Stadtarchiv wurde ich dann schließlich auf die beste Darstellung der Fährengeschichte im Bonner Raum aufmerksam gemacht: Ferdinand Clausen: Von Ufer zu Ufer! Man kann es dort bestellen

6. Breiter aufgestellt ist diese Darstellung im Netz: 
 https://www.ssoar.info/ssoar/bitstream/handle/document/52531/ssoar-dsa-1983-kuhn-Fruhe_Gierponten_fliegende_Brucken_auf.pdf?sequence=1

Nachtrag:
7. Gierrollseilfähre Bergheim, Sieg

Am 30. Mai 2021 schaffte ich es endlich, die Rollseilfähre an der Siegmündung bei Bergheim zu besuchen. Der Fährmann schafft es hier im Einmann-Betrieb nur mit Hilfe einer Stange, das Boot in leichte Schräglage zur Strömung zu bringen, die es, am Seil gehalten, in die gewünschten Richtung rechts oder links drückt. Das Ruder ist besonders lang und braucht nicht verstellt zu werden.
Ein idyllischer Ort und allemal einen Besuch wert.

Autor:

Franz Bertram Firla aus Mülheim an der Ruhr

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