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Dauerspagat für alle

Nicht nur unsere Politiker, alle befinden sich momentan im anstrengenden Dauerspagat zwischen grundgesetzlich verbriefter demokratischer Freiheit und epidemiologisch gebotenen Maßnahmen, zwischen Wissenschaft und Wirtschaft, zwischen den Erfordernissen körperlicher und seelischer Gesundheit usw.
Dabei ist der S p a g a t nicht erst seit Corona ein beliebtes Sprachbild unserer innerlich und äußerlich zerrissenen Gesellschaft.

Millionen machen Spagat. Für Frauen eine gewohnte Übung, für Männer evtl. neu, für beide neu als Home-Spagat. Im Augenblick sogar unter den Augen der kompletten Familie.
Genau genommen ist das kein Spagat, vielmehr ein „Spagat zwischen“. Das kennen wir schon von der „Schere zwischen“ und ist genauso unsinnig. Niemand benutzt eine Schere, um Abstände zu markieren. Das geschieht mit einem Zirkel. Und niemand macht einen Spagat, um zwei Dinge miteinander zu verbinden oder an sich ranzuholen, das machen wir besser mit den Armen.
Überhaupt ist jegliche Fortbewegung bei einer Maximalspreizung der Beine ausgeschlossen. Funkenmariechen werden deshalb angehoben.
Es hat einen ausschließlich ästhetischen Reiz, den wir meist mit Schmerzen bezahlen. Der Spagat, auch schon mal: das Spagat, ist also eine gymnastische Figur, bei der beide Beine, ob nun als Frauen- oder Herrenspagat so voneinander weggestreckt werden, dass sie eine Linie bilden. Diese Linie oder Schnur ist die Grundbedeutung von Spagat.
Als Redensart erscheint dieses Wort immer mit „zwischen“ und suggeriert, dass durch eine gymnastische Anstrengung eigentlich unüberbrückbare Gegensätze in Einklang gebracht werden.
Der Spagat hat damit aber nichts zu tun, genauso wie eine Schere zwischen Arm und Reich herumschnibbelt. Solche Redensarten verharmlosen mehr, als dass sie die Situation wirklich beschreiben.

Fest steht: der Spagat gehört in unserer zerrissenen Zeit zur Grundübung. Auch dieses Rumgendern
gehört ja im Grunde zum Spagatismus: Bürger*innen! Mit Spagat-Sternchen!

Ich mache hier jetzt mal abschließend einen Spagat zwischen Komik und Sprachkritik: 

Häufig gelesen werden Spagate zwischen:
Familie und Beruf
Kind und neuem Partner
Umsatz und Gesundheit
Nachhaltigkeit und Wirtschaftlichkeit
Schanze und Loipe
Strafe und Resozialisierung
Wunsch und Wirklichkeit
Zuviel und zu wenig
Kraft und Präzision
Rolle und ich
Kunst und Kosten

Seltener gelesen:  
Ermahnung und Ohrfeige
Weinen und Lachen
Komik und Lächerlichkeit
Pils und Alt
Besoffen und nüchtern
Obdachlosigkeit und Appartementwohnung
Schwimmen und ertrinken

Autor:

Franz Bertram Firla aus Mülheim an der Ruhr

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