Glosse
Bitte warten!

„Meine Töchter sollen dich warten schön“ lockt Erlkönig den fiebrigen Knaben und den reitenden Vater grauset’s. Ein Kind unserer Zeit hätte ob des seltsamen Angebots sicherlich gefragt „Ja, bin ich denn ein Tor, dass ich eines Wartes bedarf?“.
Ein problemfreies Verständnis ist dem gleichen Goethe allerdings auch heute noch sicher, wenn er voll Zuversicht an anderer Stelle prophezeit: „Warte nur, bald ruhest du auch!“
Die beiden Zitate markieren die Spannweite des Verbs „warten“, das in seiner transitiven Form heute nicht mehr auf Menschen, sondern bloß noch auf Sachen angewendet wird: Autos, Maschinen, Fußballplätze usw., die werden gewartet.
Gleichwohl beschreiben beide Anwendungsformen eine längerfristige Angelegenheit. Die scheint irgendwie zum Leben dazu zu gehören. Was bleibt uns im Wartezimmer von Dr. Sensenmann denn anderes übrig als zu warten? Niemand weiß, wann er ruft: „Der Nächste bitte!“
Das reale Wartezimmer beim Arzt ist da nicht wirklich präziser: die zugeteilten Uhrzeiten sind ja nur als Trostpflaster unserer Ungeduld zu verstehen. Sie besagen ja nichts über den Zeitpunkt, an dem man tatsächlich drankommt. Nur die Reihenfolge ist damit einigermaßen markiert.
Warum tut man sich so schwer mit dem Warten? Weil wir meinen, wir müssten immer mehreres zur gleichen Zeit tun. Zum Warten braucht man aber Zeit. Wir dagegen glauben, keine zu haben. Die Zeit wird als etwas Beängstigendes erlebt, weil überall Fristen gesetzt werden, deren Nichteinhaltung Geld kostet, vom Parkzettel angefangen bis zur telefonischen Aufforderung „Bitte warten!“
Die meisten empfinden die Zeit als etwas linear Fortschreitendes, das schnell verbraucht ist. Das setzt sie unter Stress. Menschen früherer Epochen hatten mehr ein zyklisches Zeitempfinden, das sich an der Natur orientierte und deshalb eher beruhigend wirkte.
Lassen Sie sich nicht in den Wahn treiben! Denken Sie lieber an Erlkönigs Töchter, die nur darauf lauern, Ihre Wartung zu übernehmen. Warten Sie lieber selbst! Alles wird gut!

Autor:

Franz Bertram Firla aus Mülheim an der Ruhr

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