Irrtümer zur Kriminalität
Zehn verbreitete Irrtümer rund um die Kriminalität
Taschendiebstahl – Mir klaut keiner mein Portemonnaie aus der Hosentasche. Das schafft keiner, das würde ich merken
Männer stecken ihre Geldbörsen oder Handys beim Verlassen des Hauses gerne in eine der hinteren Hosentaschen. Weit verbreitet ist beim starken (und bisweilen sorglosen) Geschlecht die Auffassung, dass man es zweifellos merken würde, wenn Telefon oder Börse von einem Bösewicht aus der Tasche gezogen werden. Diese Annahme ist leider falsch. 98.000 Fälle von angezeigten Taschendiebstählen in Deutschland alleine 2022 sprechen eine deutliche Sprache. Die Täter nutzen Ablenkungsmaschen. Das Opfer wird im Gedränge beim Einsteigen in einen Bus von einer Seite hart angerempelt oder ein scheinbarer Tollpatsch kommt ins Stolpern und lässt sein Pommes Frites mit Ketchup auf dem Hemd des Opfers notlanden. Die Ablenkung wirkt in den meisten Fällen und die Opfer sind für einen Augenblick ausschließlich auf die Körperseite des Vorfalls konzentriert und merken nicht, was an anderer Stelle passiert. Die Täter ziehen in einem Sekundenbruchteil die Wertsachen aus der Tasche, ohne dass die Betroffenen auch nur das Geringste merken. Selbst wenn jemandem doch einmal schnell auffallen sollte, dass er bestohlen worden ist und sich im Nahbereich eine Person greift, die er für den Dieb hält, hilft dies oft nichts. Taschendiebe arbeiten in aller Regel zu Mehreren. Einer verdeckt den Körper des Opfers, so dass mögliche Zeugen den Zugriff auf die Geldbörse nicht sehen können und greift zu, einer lenkt das Opfer mit einem Schubs ab und der Dritte übernimmt blitzschnell das Portemonnaie, so dass es im Fall der Fälle nicht mehr bei dem eigentlichen Dieb aufgefunden wird. Bei der Polizei sind die meisten Opfer übrigens erschüttert, wie leicht man sie ablenken konnte. Viele waren vorher der festen Überzeugung: „Mir kann das nicht passieren! Ich merk das sofort!“ Denkste!!!
Aufklärungsquote Kriminalität – Wenn eine Tat von der Polizei aufgeklärt wird, wird der Täter bestraft
Weit gefehlt. Die Festlegung, welche Tat von der Polizei als geklärt in die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) eingeht, folgt den leider butterweichen Kriterien der Statistikrichtlinien. Danach ist eine Straftat geklärt, sobald ein Tatverdächtiger im Ermittlungsverfahren bekannt wird. Wie stichhaltig die Beweise gegen den Verdächtigen sein müssen, ist allerdings nirgendwo festgelegt. Grundsätzlich reicht schon ein Verdacht, der über eine reine Vermutung nicht weit hinausgeht. So kommt es häufig vor, dass die Polizei einen Verdächtigen ermittelt, sich der Verdacht aber nicht durch Beweise ausreichend erhärten lässt. Auch wenn die Staatsanwaltschaft so einen Fall dann nachfolgend einstellt, weil „kein Fleisch“ an die Sache gekommen ist, gilt der Fall in der Polizeilichen Kriminalstatistik als aufgeklärt. Um die Größenordnungen an einem bestimmten Delikt festzumachen: Je nach Stadt oder Bundesland vermeldet die Polizei bei Wohnungseinbrüchen Aufklärungsquoten zwischen zehn und 20 Prozent aller Fälle. Tatsächlich kommt es aber nur nach zwei Prozent aller Wohnungseinbrüche zu Verurteilungen der Täter, weil entweder überhaupt kein Verdächtiger ermittelt worden ist oder die Beweise nicht reichen. Letztendlich werden also in 98 Prozent aller Fälle Wohnungseinbrecher nie bestraft. Verbrechen lohnt sich noch. Das hat nichts mit einer unfähigen oder faulen Polizei zu tun, sondern damit, dass es in den meisten Einbruchsfällen nicht den Hauch eines Ermittlungsansatzes gibt. Und ohne den kann auch der beste Kriminalist nichts ausrichten.
Wohnungseinbrecher beobachten ihre Opfer längere Zeit
Den Satz „Die müssen längere Zeit unsere Lebensverhältnisse beobachtet haben, sonst hätten die nicht gewusst, wann wir nicht zuhause sind“ hört die Polizei bei Anzeigenaufnahmen nach Einbrüchen immer wieder. Diese Einschätzung von Betroffenen gibt in aller Regel aber nicht die Realität wieder. Einbrecher – so hat sich in Interviewstudien mit inhaftierten Einbrechern gezeigt – nehmen sich nur wenig Zeit, um ein Haus oder eine Wohnung auszukundschaften, da dadurch viel zu viel Zeit zwischen zwei Einbrüchen vergehen würde und man nicht genug Geld machen könnte. Die meisten Taten werden sehr spontan und ohne nennenswerte Vorbereitung begangen. Um festzustellen, dass vormittags niemand zuhause ist, bedarf es keiner tage- oder wochenlangen Observation einer Wohnung. Es braucht nur ein bisschen Lebenserfahrung und einen Klingelversuch. Macht niemand auf, wird bestenfalls nochmal an der Tür gelauscht. Wenn man dann nichts hört, wird das Hebelwerkzeug angesetzt. Viele Einbruchsopfer glauben auch, dass die Täter vor der Tat informiert gewesen sein müssen, wo die Bewohner ihre Wertsachen versteckt haben. Auch das ist in den seltensten Fällen zutreffend. Die meisten „Verstecke“ von Hausbewohnern sind derart schlecht, dass erfahrene Täter blind hin greifen können, um an Geld zu kommen: Die Ersparnisse liegen unter den Schlüpfern im Kleiderschrank, im Reisepass, in der Zuckerdose im Küchenschrank oder an ähnlich „raffinierten“ Orten.
Einbrecher kommen nachts
Nächtliche Einbrüche in Wohnungen sind eher selten, da der Einbrecher wenig Interesse daran hat, zeitgleich mit den Bewohnern in den Räumen zu sein. Die meisten Wohnungseinbruchdiebstähle ereignen sich – so zeigen etliche wissenschaftliche Untersuchungen – wochentags zwischen zehn Uhr und 12 Uhr vormittags und zwischen 14 und 17 Uhr am Nachmittag, da zu diesen Zeiten viele Wohnungen verwaist sind und sich die Bewohner auf der Arbeit, beim Einkauf oder bei sonstigen Besorgungen befinden. Eine kleine Zahl von Einbrechern ist allerdings auf Nachteinbrüche spezialisiert. Sie nehmen das höhere Risiko zugunsten einer höheren Beuteerwartung in Kauf, da sich bei Anwesenheit der (schlafenden) Bewohner anders als tagsüber Geldbörsen, Smartphones, Armbanduhren und Autoschlüssel in den Einbruchsobjekten befinden.
Abschließbare Fenstergriffe schützen häufig vor Einbrüchen
Wer sich abschließbare Fenstergriffe an seine Fenster montieren lässt und das Gefühl hat, damit perfekt vor Einbrechern geschützt zu sein, erliegt einem Fehlglauben. Die Fenstergriffe dienen einzig dem Zweck, zu verhindern, dass ein Einbrecher, der die Scheibe einschlägt, durch das Loch greifen und den Fensterriegel in Öffnungsstellung bringen kann. Auswertungen von vielen Tausend Einbrüchen haben aber gezeigt, dass der Anteil der Fälle, in denen die Täter Glas einschlagen, bei unter zehn Prozent liegt. In der absoluten Mehrzahl der Fälle hebeln die Täter Zugänge wie Fenster oder Terrassentüren auf und schlagen überhaupt kein Glas ein. Die abschließbaren Fenstergriffe erzielen bei dieser Vorgehensweise keinen Effekt. Die Fenster springen beim Hebeln trotzdem auf. Das heißt nicht, dass der Einbau solcher Griffe sinnlos ist, aber sie schützen eben nur in der Minderzahl der Fälle und können nur als Zusatzschutz betrachtet werden.
Wenn man etwas Geld als Köder auslegt, hört der Einbrecher schneller auf zu suchen und geht wieder
Diese Einschätzung bekommen Beamte der Kriminalpolizei immer wieder zu hören. Sie ist aber schlichtweg falsch. Es gibt weder aus der polizeilichen Praxis, noch aus der Forschung Hinweise, dass so ein ausgelegter Köder einen Einbrecher dazu bewegen würde, sich mit dem ausliegenden Geld zufrieden zu geben und die Wohnung deshalb eher zu verlassen. Der Einbrecher wird sich lediglich freuen, einen zusätzlichen Geldbetrag ohne große Mühe erlangt zu haben. Den versteckten Rest findet er häufig trotzdem.
Wenn Einbrecher nichts finden, schlagen sie aus Wut alles kurz und klein
Auch die Einschätzung, dass Einbrecher aus Frust häufig Wohnungen mutwillig verwüsten, ist ein verbreiteter Irrglaube. Kaum ein Einbrecher hat ein Interesse an sinnlosen Zerstörungen wie dem Zerschneiden von Sitzgarnituren oder dem Verschmieren von Ketchup an den Wänden der Wohnung. Studien haben gezeigt, dass der Anteil der Einbrüche, bei denen willkürliche und massive Zerstörungen angerichtet werden, nur bei knapp einem Prozent aller Fälle liegt und es sich bei diesen Fällen regelmäßig um Beziehungstaten handelt, bei denen der Täter dem Opfer aus persönlichen Gründen Schaden zufügen möchte – etwa der Liebhaber, der von einer Frau aus der Wohnung geworfen wurde. Der „normale“ Einbrecher beschädigt zwar Zugänge, um ins Haus zu gelangen und öffnet auch gewaltsam verschlossene Behältnisse, wenn er Wertsachen darin vermutet. Das sind aber lediglich tatnotwendige Beschädigungen. Ketchupschmier- und Eierwurfaktionen oder das sinnlose Zerstören von Wertsachen sind nicht in seinem Interesse und kommen kaum vor. Er möchte möglichst schnell wieder die Wohnung verlassen und auch wenig Lärm machen. Jede zusätzliche Minute Aufenthalt und jedes unnötige Geräusch erhöhen sein Risiko, von Nachbarn entdeckt und von der Polizei festgenommen zu werden. Hat man doch einen Vandalismusfall, sollte man scharf überlegen, mit wem man gerade richtig schön Krach hat.
Den Enkeltrick müsste doch jeder mittlerweile kennen – man muss ziemlich dumm sein, um heute noch darauf hereinzufallen
2021 hat die Polizei in Nordrhein-Westfalen 3.100 Fälle des sogenannten Enkeltricks registriert, wobei die Täter in 150 Fällen erfolgreich waren. Die polizeilich bekannten Schäden lagen in diesen Fällen schon bei 1,7 Millionen Euro. Die Falltendenz ist steigend. Beim Enkeltrick rufen Kriminelle als angebliche Enkel getarnt bei älteren Menschen an, täuschen mit dramatischer Wortwahl eine schwerwiegende Notlage vor und bitten die vermeintlichen Opas und Omas um Geld, das zur Behebung des Problems benötigt wird. Das Geld wird dann immer von einem Boten abgeholt, da die Opfer sonst sehen würden, dass nicht ihr Enkel vor der Tür steht. Taten dieser Art gehen täglich durch die Presse und werden von der Polizei in Vorträgen und über Flyer bekannt gemacht. Die meisten Menschen haben schon so oft von solchen Fällen gehört, so dass sie nicht verstehen können, dass es überhaupt noch Senioren gibt, die darauf hereinfallen. Tatsache ist: Viele betagte Menschen leben einsam und ohne Sozialkontakte. Europaweit gelten 7 % aller Menschen aller Menschen als sozial isoliert, ganz besonders betrifft dies Ältere. Ein Teil der Älteren informiert sich auch nicht aus den Medien. Kommt beides zusammen, so verwundert es nicht, dass diese Menschen auch weithin bekannte Kriminalitätsmaschen nicht kennen. Und selbst Senioren, die schon einmal von diesem Trick gehört haben, werden in überraschenden, schockierenden Anrufen mit so einer Dramatik konfrontiert, dass schockähnlich das klare Denken aussetzt und die Betroffenen schließlich von der behaupteten Notlage fest überzeugt sind. Sind sie erst einmal in so einem Zustand und mit den Nerven fertig, fällt es den Tätern leicht, hohe Geldsummen und Schmuck bei Ihnen abzuholen. Es muss also überhaupt nichts mit Dummheit oder extremer Naivität zu tun haben, wenn ein älterer Mensch auf so einen Betrüger hereinfällt.
Die Kriminalität steigt immer weiter an
Wenn Kriminologen für Hochschulen Befragungen zum Sicherheitsgefühl von Menschen durchführen, gehört in aller Regel auch die Frage dazu, ob die Kriminalität als sinkend, stagnierend oder ansteigend empfunden wird. Die regelmäßige Einschätzung von befragten Bürgern ist die Annahme, dass die Kriminalität immer mehr zunimmt. Diese Einschätzung ist, zumindest für die Verhältnisse in Deutschland, über viele Jahre hinweg betrachtet, schlichtweg falsch. So ist etwa die Kriminalität in der BRD zwischen 2010 und 2014 permanent von 6,6 Millionen auf unter 6 Millionen Fälle gesunken. Nach einem leichten Anstieg 2015 und 2016 hat es dann bis 2021 wieder jedes Jahr Rückgänge gegeben. Erst 2022 ist wieder ein Anstieg zu verzeichnen gewesen. 2021 war mit fünf Millionen Fällen das Jahr mit der geringsten Kriminalität seit der Wiedervereinigung Deutschlands 1990. Das Gefühl der Menschen bei Umfragen war aber stets genau anders: „Es wird von Jahr zu Jahr schlimmer!“
Mord und Totschlag machen einen erheblichen Teil der Kriminalität aus
Von vielen Menschen werden Tötungsdelikte als ein relativ häufiges Delikt wahrgenommen. Schaut man sich einmal die Zahlen an, so stellt man allerdings fest, dass die Zahl der Mord- und Totschlagsfälle pro Jahr in ganz Deutschland (84.000.000 Einwohner) gerade einmal bei 2.211 bekanntgewordenen Fällen liegt. Das sind 0,04 % der Gesamtkriminalität. Zieht man in Betracht, dass die Zahl der vollendeten Fälle, also da, wo tatsächlich Menschen gestorben sind, bei 493 Fällen bundesweit liegt, so kommt man auf einen Anteil von 0,008 % an der Gesamtkriminalität. Das sind immer noch 493 Fälle zu viel, aber die Wahrnehmung der Tötungsdelinquenz ist bei vielen Menschen deutlich höher. Das Mord und Totschlag vielfach für gar nicht so seltene Delikte gehalten werden, hat auch mit der intensiven Medienberichterstattung zu tun. So wird nicht nur jedes Tötungsdelikt von den Medien aufgegriffen, sondern über jeden Fall wird über längere Zeiträume hinweg mehrfach berichtet: Erst über die Tat selbst, dann über das Opfer, schließlich über den ermittelten Täter und später noch über die Gerichtsverhandlungen, die dazu abgehalten werden. Diese häufige Berichterstattung ist geeignet, in der Öffentlichkeit das Gefühl zu erzeugen, dass eigentlich permanent Tötungsdelikte begangen werden. Die verzerrte Wahrnehmung wird noch dadurch verstärkt, dass über viele andere Delikte gar nicht oder nur wenig berichtet wird.
Autor:Dr. Frank Kawelovski aus Mülheim an der Ruhr | |
Webseite von Dr. Frank Kawelovski |
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