Moers Festival 2022: Es ist an einem guten Ort!
Neue Konzepte prägen das Festival in vielfacher Weise - Zweiter Teil

Eine Besucherin erkundet eine Klanginstallation | Foto: Miriam Juschkat @mœrs festival
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  • Eine Besucherin erkundet eine Klanginstallation
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Zweiter Teil:

Die Israelin Maya Dunietz trat an Pfingsten mehrfach auf, das größte Projekt zeigte sie in der Festivalhalle mit ihrem Meitar Ensemble. Ihr Werk „Hal Shirim“ basiert auf arabischen Texten palästinensischer Dichter, das vom Mädchenchor des Essener Doms eingeübt und mit großem Engagement vorgetragen wurde! Die Diversität der Konzeption der Musik im Zusammenhang mit dem Chorgesang, die ständigen Wechsel der Tempi verdichteten sich zu einem nahezu rauschartigen Zustand für die Augen und Ohren. Das Ensemble und der Mädchenchor ernteten donnernden Applaus.

Das Experiment „Annex“ performte erstmals beim Festival und war im Schulhof des Filder Benden zu hören. Die Zusammenstellung der Gruppen obliegt keiner künstlerischen Leitung des Festivals, sondern wird von allen teilnehmenden Musiker*innen autark organisiert. In 17 Sessions erzeugten die spontan zusammen gestellten Trios, Quartette und Quintette immer wieder überraschende Momente. Dieses Experiment wurde dankend angenommen, obwohl als Nebenreihe gestartet, zeigte sich in der Reihe die Urgewalt des Moerser Gedankens: Wild, frei, grenzenlos und niemals Establishment.

Die „mœrs sessions“ seit Jahrzehnten, die „mœrsterclass“ seit fünf Jahren, beide sind feste Institutionen im Programm und beide werden souverän kuratiert von Jan Klare und Lukas Döhler. Beim Wettbewerb „mœrsterclass“ treffen die jungen Komponisten auf routinierte Musiker*innen, die ihre Werke aufführen. Vor der Bühne treffen sich die Generationen der Besucher, Jung und Alt, die sich regelmäßig erneuern, es kommen jüngere zum ersten Mal nach Moers, es kommen ältere (ja, auch „Alte“ entdecken noch das mœrs festival), das geht seit fünf Jahrzehnten so und jeder versteht sich mit jedem, auch ohne Worte, da reicht ein Lächeln. An Pfingsten lächelten alle.

In den beiden fürchterlichen Vorjahren sind in etwa 30% der Schausteller*innen, die vor Corona im Festivaldorf Waren anboten, auf der Strecke geblieben, deren Geschäft existiert nicht mehr. Die Geschäftsgrundlagen der Caterer, der Bühnencrew, der Techniker, einfach des gesamten Fachpersonals, das benötigt wird, um Konzerte und Festivals durchzuführen, war aufgrund der Verbote im Kunst- und Unterhaltungssektor entzogen. Viele suchten sich Jobs in anderen Berufsfeldern, von was sollten sie sonst existieren? Das ist nun tatsächlich der Grund und zudem grotesk, warum alle Veranstalter und Gastronomen erhebliche Schwierigkeiten haben, Fachpersonal zu finden.

Das frühere Festivaldorf an der Festivalhalle wurde dreigeteilt, an den Haupt-Standorten fanden die Besucher*innen 50 Marktstände (Essen, Trinken und Einkaufen) und das Angebot fand sehr guten Zuspruch. Die Menschen müssen sich nach den enorm anstrengenden Jahren erholen und die Moerser nutzten alle Pfingsttage. Wo hin der Blick auch ging, überall sah man in glückliche und lachende Gesichter. Es wurden so viele Familien mit kleinen Kindern an den vier Tagen gesehen und alle hatten ihren Spaß, letztere vor allem im „Wo-die-wilden-Kinder-wohnen-Land“. Die neuen Spielorte Musikschule und Gymnasium (Aula, Turnhalle, Schulhof) können als absoluten Gewinn verbucht werden - inklusive des Bereichs mit den Ständen, die sehr unterschiedliche, schmackhafte Essen anboten.

Das Dilemma der für die Kunst Arbeitenden traf die Protagonisten der Kunst in gleichem Maße. Die große Zahl der Musiker*innen, die zwei Jahre lang kaum auftreten durften und damit mehr oder weniger mittellos, ist erschreckend hoch. Die Musikschulen waren geschlossen und es konnten nicht alle (Fern-) Unterricht an Instrumenten geben, daher konnte die Szene auch hier einen Wechsel in andere Berufe verzeichnen. In der Kulturbranche arbeiteten bis zum März 2020 etwa 1,8 Millionen Menschen. Und viele, viele dieser Menschen fühlten und fühlen sich von der Politik nicht wahrgenommen, nicht ernst genommen und nicht respektiert. Einige Branchen wurden mit etlichen Milliarden subventioniert, die Kultur nicht. Die Worte der Künstler*innen wurden überhört.

Die Kulturszene muss sich erholen und das ist kein Sprintrennen und keine Mittelstrecke, das ist ein Marathon. In vielen Worten der Musiker*innen ist herauszuhören, wie öde es ist, die Bandmitglieder*innen nur online zu sehen, wie schnell es gehen kann, an die eigenen psychologischen Grenzen zu kommen. Moers war ein Baustein einer Neu-Gründung, es müssen viele folgen, um den Standard der „Vor-Corona-Zeit“ zu erreichen.

Eine zentrale Frage des Festivals lautete: „Is this noch a Jazzfestival?“ Die Antwort ist eindeutig: Ja. Es ist das, was es seit jeher war und immer noch ist. Ein neugieriges Festival. Ein überraschendes Festival. Ein Kultur-, ein Subkultur- und ein Avantgarde-Festival. Selbstverständlich war schräger Jazz zu hören, leiser Jazz, fetziger Jazz und jedwede erdenkliche Form der Improvisation. Moers bleibt aber nie stehen, öffnet sich neuen Konzepten, siehe oben, erfindet neue Konzepte, kopiert neue Konzepte und verbessert diese. Moers ist vorne und daher orientieren sich Festival-Veranstalter und Musiker*innen an Moers. Hier ist es Usus, die gesellschaftliche Verantwortung für die Kultur zu leben.

Der 78-jährige Saxophonist Henry Threadgill sagt: „Jedes neue Projekt ist ein Neubeginn. In meinen Gedanken und Gefühlen beginnen sich bestimmte Aspekte zu verdichten. Sie müssen anfangs nicht unbedingt Sinn ergeben, eröffnen aber Optionen für Auseinandersetzung. Das ist es ja, was Komposition bedeutet: etwas formen und vollenden. Komposition kommt nicht in einer fertigen Form zu dir. Du selbst musst die richtigen Proportionen und alle anderen Komponenten finden“(1).

Das mœrs festival wird sich nie in einer fertigen Form befinden. Es sucht und sucht immerzu, es provoziert, es konfrontiert, es dient der Kommunikation, jedes Jahr ist „nach dem Festival“ ein „vor dem (nächsten) Festival“. Nur eines steht fest: Das Festival ist in Moers an einem guten Ort.

Klaus Denzer

(1): Text Wolf Kampmann, Jazzthing Nr. 141

Autor:

Klaus Denzer aus Moers

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