Stolpersteine erinnern
Emma und Erna Blumrodt NS-Opfer in Heilanstalten

Emma Blumrodt schon zwei Jahre in Haft in der Heilanstalt Gütersloh. | Foto: Foto: LWL-Archivamt für Westfalen, Archiv LWL, Best. 661
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  • Emma Blumrodt schon zwei Jahre in Haft in der Heilanstalt Gütersloh.
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Lünen. Die Tötungsmaschinerie der Nazis fand nicht nur in den Konzentrationslagern statt. Es wurden auch Menschen aus ideologischen Gründen in Heil- und Pflegeanstalten eingesperrt, weil man sie für eine Gefahr oder Belastung für die „Volksgemeinschaft“ hielt. Zahlreiche wurden später in einer konzertierten Aktion ermordet. Andere „Kranke“ wurden, oft nach einer schnellen Diagnose, zwangssterilisiert und Kindern, die sogenannte Hilfsschulen besuchten, wurde vermittelt, sie sollten sich freiwillig sterilisieren lassen. Grundlage dieser Misshandlungen war das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“, das am 14. Juli 1933, kurz nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten, durch die deutsche Reichsregierung beschlossen wurde und Anfang 1934 in Kraft trat. Sogenannte „erbkranke“ Menschen sollten auch gegen ihren Willen „unfruchtbar“ gemacht werden. Als „unwert“ definiertes Leben sollte somit gar nicht erst entstehen.
Davon betroffen waren auch Emma Blumrodt und deren Tochter Erna aus Lünen, die zuletzt in der Bebelstraße 95, der damaligen Kaiserstraße wohnten. Für beide wurde durch eines der eigens eingerichteten Erbgesundheitsgerichte die Zwangssterilisierung beschlossen. Emma Blumrodt wurde starb in einer Heilanstalt in Gütersloh, die sie nicht mehr verlassen durfte. Für beide werden zwei Stolpersteine verlegt, um an sie als NS-Opfer zu erinnern.

Dr. Tom Tölle führt Recherchen durch
Die umfangreichen Recherchen führte Dr. T. Tölle für seine Urgroßmutter und deren Tochter durch: „Das erlittene Unrecht durch die nationalsozialistische Gesetzgebung ist offenkundig und ich hoffe, dass mit den Stolpersteinen auch ein Zeichen gegen die Tabuisierung und die Scham gesetzt werden kann, die auch heute im Umgang mit psychischen Erkrankungen verbreitet sind. Vorstellungen, dass Menschen aufgrund von Armut, Krankheit oder Bildungsgrad weniger wert seien, spielten den Nationalsozialisten in die Hände.“

Emma Elisabeth Frieda Blumrodt, geb. Tölle, kam am 13. Juni 1893 als drittes Kind des Tischlers Louis Tölle und seiner Frau Emma, geb. Hartung in Niedergebra in Thüringen zur Welt. Die Familie zog im April 1899 ins nahe gelegene Mühlhausen. Fünf ihrer neun Geschwister starben bereits kurz nach der Geburt. Dieser Umstand ebenso wie die vielen Umzüge in Mühlhausen deuten auf große Armut hin. Emma besuchte sechs Jahre die Volksschule und zwei Jahre die Mittelschule und hat dort „gut gelernt“. Im Alter von 25 Jahren brachte sie ihren Sohn Ludwig, als uneheliches Kind zur Welt. In der Meldekartei der Familie stand lediglich „Ein Kind, geb. 16. August 1918“. 1920 heiratete sie den Bergmann Otto Blumrodt aus Menteroda um später mit ihm in die Bergbaustadt Lünen zu ziehen. Dort war sie als Hausangestellte und Köchin tätig. Otto Blumrodt war auch als Händler eingetragen, bevor er 1930 arbeitslos wurde.

Erna Blumrodt in Thüringen geboren

Aus der Ehe mit Emma gingen zwei Kinder hervor. Die Tochter, Erna Blumrodt, wohl benannt nach Emmas Schwester, die drei Monate zuvor verstorben war, wurde am 21. Januar 1921 noch in Menteroda im damaligen Kreis Gotha in Thüringen geboren. Der Sohn, Günter Heinrich Blumrodt am 19. Juli 1922 bereits in Lünen. Der letzte selbstgewählte Wohnort Emma Blumrodts und ihrer Tochter lag in der damaligen Kaiserstraße, heute Bebelstraße 95 in Lünen.

Von Essen, Düsseldorf, Dortmund nach Gütersloh
Im April 1934 wandte sich Emma Blumrodt auf einer Reise zu Verwandten an eine Polizeidienststelle in Essen, um Obdach für die Nacht zu bekommen. Man brachte sie in das „Heimathaus Sichar für schwachsinnige, altersschwache sowie körperlich sieche Frauen und Mädchen“ in der Holsterhauser Straße. Emma scheint sich gewehrt zu haben: Bereits am nächsten Tag wurde sie von dort gegen ihren Willen in das städtische Krankenhaus Essen gebracht, wo sie zu „Gewalttätigkeiten neigte und Sinnestäuschungen bei ihr festgestellt wurden“. Am 27. April 1934 wurde sie zunächst in die Heil- und Pflegeanstalt Düsseldorf-Grafenberg, dann nach Dortmund-Aplerbeck überwiesen. Man diagnostizierte bereits in Grafenberg binnen kurzem „Schizophrenie“ und stellte auch einen „epileptischen Anfall“ fest. Aufgrund des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ der nationalsozialistischen Regierung vom 14. Juli 1933 wurde im Juni 1934, eine Woche nach ihrem 41. Geburtstag, auf Antrag der Klinikleitung in Düsseldorf ein Verfahren durch das nun zuständige Erbgesundheitsgerichts beim Amtsgericht eingeleitet.
Es wurde dazu, weil die Patientin sich nicht selbst vertreten durfte, zunächst am 03. August 1934 ein juristischer Pfleger, Dr. jur. Dietrich Puppe aus Düsseldorf, bestellt. Das Gericht beschloss am 26. September 1934 Emmas Zwangssterilisation, die Puppe nicht anfocht. Zu diesem Zeitpunkt, d.h. nach den damals üblichen Behandlungen, die nicht dokumentiert sind, hatte sie 1934 Wahnvorstellungen und „schimpfte maßlos“ wie die Gerichtsakte notiert.
In Dortmund-Aplerbeck lag die administrative Zuständigkeit statt in der „Rheinprovinz“ jetzt in „Westfalen“. Mit dem Ergebnis, dass sich in ihrer Akte unter anderem zunächst keine Verwandten eingetragen waren. Auch die Anschrift ihres Ehemannes war unbekannt, sodass sie in den ersten Monaten keinen Besuch empfing. Zunächst setzte sich ihr Ehemann für Emma ein: So wurde er in einem Bericht aus Dortmund-Aplerbeck vom 28. August 1934 noch als „recht uneinsichtig“ beschrieben. Er behaupte, „es handele sich bei seiner Frau um keine Erbkrankheit u. protestiert gegen die Sterilisierung“. Auch schrieb er einen bewegenden Brief an den Rechtsbeistand, in dem er die Gewalt des Pflegepersonals gegen seine Frau anprangerte und äußerte, es handele sich ja um eine Heilanstalt und um kein Gefängnis. Zugleich zeigt dieser Brief, wie sehr die Ideologie, die Angst und die Scham sein Leben zu diesem Zeitpunkt prägten. Er drängte auf ihre Entlassung mit der Begründung, weder er noch seine Frau seien zuvor krank gewesen und seine Frau sei inzwischen nach einer Fehlgeburt ohnehin unfruchtbar.
Dann rund ein Jahr später am 10. August 1935 änderte sich seine Meinung deutlich zu Ungunsten seiner eigenen Ehefrau. Über die Gründe ist nichts weiter bekannt. Jedoch erstreckte sich das Verfahren nun auch auf seine Tochter. Otto Blumrodt klagte mit dem eigenen Rechtsbeistand, dem Notar W. Coers aus Lünen zivilrechtlich auf Ehescheidung aufgrund von Paragraph 1569 des Bürgerlichen Gesetzbuches. Um sich auf dieser Grundlage scheiden zu lassen, war jedoch eine dreijährige Krankheit nachzuweisen. Im Krankenbericht für das Erbgesundheitsgerichts finden sich die „Angaben des Mannes“, sie sei in der Ehe „nie krank gewesen“. Jetzt jedoch äußerte Blumrodt, im Dezember 1933 habe sich seine Ehefrau bereits plötzlich verändert, sich nicht mehr um den Haushalt gekümmert und sei bis „14 Uhr zu Bett liegen“ geblieben, „kochte nicht, ging nicht vor 2 Uhr zu Bett“ und habe „sinnlose Ausgaben“ gemacht. Später dann gab Blumrodt an, sie glaube, „Leute wollten in ihre Wohnung eindringen, um sie zu schlagen“. Dann sagte sie, sie habe sich in einen Polizisten verliebt und entschied, nicht mehr nach Hause kommen und sich scheiden lassen zu wollen. Diese Angaben beschrieb die Krankenakte als „Wahnideen“.

Emma Blumrodt starb in Güterloh
Mitte Januar 1936 wurde Emma Blumrodt aufgrund von Überbelegung in Dortmund-Aplerbeck in die Provinzialheilanstalt Gütersloh verlegt. In der Scheidungsangelegenheit nahm der leitende Oberarzt der Heilanstalt Gütersloh Dr. Merguet dann erst im April 1937 Stellung. Er begründete die Diagnose Schizophrenie ausführlich und erläuterte, warum Emma eine Gefahr auch für andere darstelle und eine Wiederaufnahme der ehelichen Gemeinschaft nicht zu erwarten sei. Er konnte nun sogar dazu ausführen, die Aussage, die Emma habe auch vorher bereits Krankheitssymptome gehabt, stamme vom Ehemann. Zugleich ist dieser Befundbericht das einzige Dokument, in dem Emma selbst zu vernehmen ist. Der Arzt protokollierte, um ihren Zustand vorzuführen, ausführlicher eine Unterredung mit ihr, in der sie sich – nach dreijährigem Klinikaufenthalt – nicht mehr zusammenhängend zu Fragen äußern konnte.
Nachdem Emma am 24. August 1938 um 00:30 Uhr verstorben war, teilte Dr. Merguet auf einer Postkarte dem Ehemann in der Kaiserstraße 95 in Lünen ihren „plötzlichen und unerwarteten“ Tod an einer „Gehirnblutung“ mit. Darin wurde angekündigt, sie werde – wenn die Familie sie nicht abhole – am 27. des Monats auf dem Anstaltsfriedhof beigesetzt. Die Karte kam am 25. August wieder in Gütersloh an. Sie trug den Vermerk, der Empfänger sei „unbekannt verzogen“. Auch „Frau Tölle“ im „Petri-Steinweg“ in Mühlhausen wurde „per Eilbote“ der Tod mitgeteilt, damit sie an der Beerdigung teilnehmen könne. Emmas Mutter Emma Tölle geb. Fischer war jedoch bereits am 09. Mai 1934 verstorben und so kam auch diese Karte mit dem Hinweis „Adressat verstorben“ zurück. Ihrer Beisetzung wohnte kein Freund oder Verwandter bei.
Von Emma hat sich nur eine bekannte Fotografie erhalten. Sie wurde 1936 in der Provinzialheilanstalt Gütersloh, mutmaßlich ohne ihre Zustimmung, für die Patientenakte aufgenommen.

Erna Blumrodt wurde als Jugendliche zwangssterilisiert
Auch gegen Emmas Tochter Erna, die zu diesem Zeitpunkt als 13-Jährige als Hausangestellte bei einem Landwirt tätig war, wurde ein Verfahren beim Erbgesundheitsgericht eingeleitet, das sich mit schriftlicher Anfrage bei der Verfahrensakte ihrer Mutter bediente. Das Dortmunder Erbgesundheitsgerichts forderte mit Hinweis „Eilt sehr“ am 24. August 1934 zur Sitzung am 04. September 1935 die Krankengeschichte der Mutter an. Eine Sippentafel, die erwähnt wird, sich jedoch nicht erhalten hat, wurde ebenfalls angefertigt.
Das Erbgesundheitsgericht prüfte Ernas Intelligenz und zog auch die „Personalakte (sic) der Hilfsschule Lünen heran, die sie besucht hatte. Das Anschreiben zur Anlage des Rektors Siepmann hat sich erhalten. Der Patientenbogen erläuterte, Erna sei mit sechs Jahren an „Stickhusten“ erkrankt und dann in der Schule nicht mehr mitgekommen. Der Vater nahm an, sie sei „als Racheakt von der Lehrerin, weil Vater Streit mit ihr hatte“ auf die Hilfsschule überstellt worden. Das Gericht attestierte Erna 1935 aufgrund eines Tests vor Ort mit Allgemeinbildung und Grundrechenarten „angeborenen Schwachsinn“, bezog sich auch auf ihre Mutter und deren Geisteszustand, und beschloss im selben Jahr ihre Unfruchtbarmachung. Diese wurde an ihr im Alter von 14 Jahren am 31. Oktober 1935 in der Frauenklinik der Städtischen Krankenanstalten Dortmund durchgeführt. Erna Blumrodt starb am 17. Februar 2004 in Hamburg-Harburg.

Beide Brüder überlebten

Ihr damals 21jähriger (Halb-)bruder, Ludwig Emil Tölle, erfuhr vermutlich nie auf offiziellem Weg von ihrem Schicksal und dem Tod seiner Mutter. Er lebte wohl nach seiner unehelichen Geburt 1918 bei seinem Großvater und besuchte ab 1925 für ein Jahr in Mühlhausen die Schule im Petristeinweg. Wie das Schularchiv nachweist, wurde Ludwig Tölle dann von der Petrischule zur sogenannten „Hilfsschule“ abgemeldet und tauchte erst zu seiner Konfirmation 1930 in der Überlieferung wieder auf; in Spenge (NRW), wo er bereits als Zwölfjähriger auf einem Hof arbeitete. Nur rund 35 km von der Heilanstalt in Gütersloh entfernt. Emma erwähnte das uneheliche Kind im gesamten Verfahren nie. Ob sie dies nicht tat, um ihn vor einer eigenen Zwangssterilisation zu schützen, kann nur vermutet werden. Ludwig Tölle heiratete am 14. April 1945, unter Nennung des Namens seiner Mutter Emma mit Nachnamen Tölle. Aus Ludwigs Ehe gingen fünf Kinder, sieben Enkelkinder und bisher sieben Urenkel hervor. Sein Enkel, Dr. T. Tölle stieß erst 2024 bei Recherchen zur Familiengeschichte auf Emma und Erna.
Zu ihrem Bruder Günter Heinrich Blumrodt, der am 19. Juli 1922 in Lünen geboren wurde, als die Familie am dortigen Viktoriaplatz 20 lebte, führt der Befragungsbogen Ernas aus, er besuche ebenfalls die Hilfsschule, da er an „englischer Krankheit“, einer Knochenerkrankung bei Jugendlichen, leide. Er sei jetzt auf dem „Lande … bei einem Bauer Zimmermann“. Günter Blumrodt verstarb am 10. Oktober 1957 im Alter von 35 Jahren in Dortmund-Derne. Zuvor befand er sich im Kriegsdienst sowie in französischer Kriegsgefangenschaft, aus der er am 01. Januar 1947 entlassen wurde.

Emma Blumrodt schon zwei Jahre in Haft in der Heilanstalt Gütersloh. | Foto: Foto: LWL-Archivamt für Westfalen, Archiv LWL, Best. 661
Hochzeitsbild 14.4.1945, rechts Ludwig Tölle - Grossvater von Dr. Tom Tölle | Foto: Dr. Tom Tölle Privatarchiv
Autor:

Udo Kath aus Lünen

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