"Das ist Mittelalter" - Ist das Mittelalter? Bemerkungen zu Lüner Reaktionen auf das "Charlie Hebdo"-Attentat
„Das ist Mittelalter“ – mit diesem Zitat titelten RuhrNachrichten und Westfälische Rundschau am 10. Jan. 2015 einen Großartikel zu Lüner Reaktionen auf das „Charlie Hebdo“-Attentat.
Doch was soll an diesen aktuellen Terrorakten so mittelalterlich sein? Hier treten sich Klischees, historische Unkenntnis, verbale Hilflosigkeit und vielleicht auch die Schlamperei unreflektierter Sprachgewohnheit breit. Wir haben es hier leider mit historischer Etikettenkleberei, um nicht zu sagen: Etikettenschwindel zu tun. Es klingt auch eine Selbstüberheblichkeit der eigenen, sich selbstgefällig als „Neuzeit“ oder „Moderne“ titulierenden Epoche durch.
Das ganze, angeblich so „dunkle“ Mittelalter kannte viele Grausamkeiten, aber weder weltanschaulichen Staatsterror, noch Konzentrationslager oder Holocaust. Es war der angeblich so hellen Neuzeit vorbehalten, solche bestialischen Realitäten des Terrors zu erfinden und zu perfektionieren. Im Mittelalter war das Miteinander von Christentum, Judentum und Islam gewiss keine reine Erfolgsgeschichte. Aber kein christlicher Philosoph und Theologe des Hoch- und Spätmittelalters, der ernst genommen werden wollte, konnte ohne die intensive Kenntnis islamischer Denker auskommen. Der damals maßgebliche Aristoteles-Kommentator für alle Europäer war Averroes, ein 1126 in Córdoba geborener Muslim! Das Mittelalter war auch die Epoche öffentlicher Religionsgespräche, in denen man sich argumentativ und philosophisch reflektiert über Gemeinsamkeiten und Differenzen der Religionen austauschte. Diese öffentliche interreligiöse Disputationsform ist leider in der Neuzeit vor allem durch den Einfluss der Reformation und ihrer Fixierung auf die Bibel (sola scriptura: „allein die Schrift“) nahezu verloren gegangen.
In seinem vor fast genau 230 Jahren erschienenen Aufsatz „Was ist Aufklärung?“ schrieb Immanuel Kant uns allen ins Stammbuch: „Wenn denn nun gefragt wird: leben wir jetzt in einem aufgeklärten Zeitalter? so ist die Antwort: nein, aber wohl in einem Zeitalter der Aufklärung.“ Bei selbstkritischer Betrachtung bleibt also auch in unserer eigenen Kultur genug zu tun! Es ist Aufgabe historischer Forschung und Chance historischer Bildung, aus der Enge der eigenen Gegenwart herauszuführen und in die Breite des geschichtlich Gewesenen und historisch Möglichen einzutreten, damit künftig ein friedvolles interkulturelles und interreligiöses Zusammenleben möglich wird. Auch das Mittelalter besitzt positive interkulturelle Ansätze, die es verdient haben, auch heute noch beachtet zu werden und die das Weltgeschehen ohne negative Folgen leiten könnten.
Mehr Bildung und Information tut auf allen Seiten not, auf Seiten der Täter, aber auch auf Seiten ihrer Kritiker. Für eine treffende Analyse und Kritik des jetzigen Terrors, der eine Geburt der Moderne ist, brauchen wir andere, bessere Vokabeln!
Dr. Matthias Laarmann,
Mitglied des Deutschen Mediävistenverbandes
44534 Lünen
Zitatbeleg:
KANT, I.: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (30. Sept. 1784). In: DERS.: Werke in sechs Bänden. Hrsg. von W. WEISCHEDEL. Frankfurt a.M. 1964, Bd. 6, S. (53-61) 59.
Autor:Dr. Matthias Laarmann aus Lünen |
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