Schule hinter Panzerglas: In der Forensik
Mittlerweile ist es normal, dass Strafgefangene in der Haft ihren Schulabschluss nachholen können. Auch Patienten in der Forensik können das: Die Wilfried-Rasch-Klinik des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL) in Dortmund bietet diese Möglichkeit an.
In der Aplerbecker Klinik sind bis zu 62 psychisch kranke Rechtsbrecher heimatnah untergebracht. Sie kommen aus Dortmund, aber auch Kamen, Unna und Lünen. Man merkt gleich, dass hier einiges anders ist: Vor dem Unterricht können die Patienten nicht einfach so zur Schule gehen, sondern werden vom Lehrer abgeholt und auf dem Weg begleitet. Heute steht Erdkunde auf dem Stundenplan der Schüler. Lehrer Michael Lasthaus fragt die Schüler das Gelernte der vorherigen Stunde ab. Er erklärt ihnen, welche die Haupt- und welche die Nebenflüsse sind. Die Schüler beteiligen sich eifrig und diskutieren mit Lasthaus über die richtige Einteilung. Der Lehrer hilft den Schülern bei einem Arbeitsblatt, auf dem sie Städte- und Flussnamen eintragen sollen.
Gesamte Bandbreite des schulischen Wissens
„Man erlebt hier die gesamte Bandbreite des schulischen Wissens“, sagt er. „Einige kennen sich schon ganz gut aus, andere haben noch nie eine Landkarte verwendet.“ Ein Teil der Schüler habe die Schule nur sehr unregelmäßig besucht und kannte noch nicht einmal die Himmelsrichtungen; ein Fünftel aller Patienten seien funktionale Analphabeten. „Da ist Erdkunde oft hintenüber gefallen. Wenn sie dann aber gute Noten bringen, sind das auch schöne Erlebnisse für uns Lehrer. Es ist toll zu sehen, wenn Erwachsene mit Tränen in den Augen ihr Zeugnis erhalten.“
„Meinen Hauptschulabschluss hab ich früher schon gemacht, jetzt werde ich den Realschulabschluss nachholen“, erzählt Nils W. (Name von der Redaktion geändert). „Zur Vorbereitung mache ich aber noch einmal den Hauptschulkurs mit.“
Die Motivation fällt nicht immer leicht. „Durch den Unterricht lernt man auch, immer dranzubleiben und nicht aufzugeben“, so Maik S. (Name von der Redaktion geändert). „Auch meine Schüchternheit hat sich deutlich gelegt. Ich habe das für mich gemacht, nicht wie früher für andere.“
Lasthaus hatte nach seiner Ausbildung zunächst als Hauptschullehrer gearbeitet. Dann las er die Stellenausschreibung für die Forensik und dachte: So eine Möglichkeit bekommst Du nicht wieder. „Ich gab mir fünf Jahre, jetzt mache ich das bereits seit 25 Jahren.“ Interessant findet er auch den Austausch mit den Kollegen aus Therapie und Pflege, anstatt „nur“ mit Lehrern.
Kurze Wege und viel Eigeninitiative
Ein Vorteil des Forensikunterrichts sind die kleinen Klassen. „In einer Gruppe von zehn Schülern fällt es leichter, den Stoff zu lernen. Die Lehrer haben mehr Zeit für jeden einzelnen“, erklärt Patient W. „Ein Problem sind natürlich die unterschiedlichen Krankheitsbilder. Auch sind die Altersunterschiede zwischen uns Patienten teilweise groß. Dass wir in einer Forensik sind, ist uns immer bewusst.“ Mit dem Fächerangebot sind sie im Großen und Ganzen zufrieden.
Ein Nachteil ist, dass in einer kleineren Klinik wie der in Dortmund-Aplerbeck nicht so viele Mittel zur Verfügung stehen. So sind die Räume oft zu klein; der Unterricht findet teilweise in der Cafeteria statt. „Wir können ja nicht einfach anbauen wie andere Schulen. Andererseits haben wir hier ein System der kurzen Wege, so dass wir mit Eigeninitiative viel gestalten können“, so Lasthaus.
Auch Maik S. kam gut im Unterricht mit. „Problematischer ist eher das Lernen auf der Station, da dort auch andere Patienten sind, die nicht immer Rücksicht nehmen.“ Der Unterricht vermittelt die gleichen Kenntnisse wie andere Schulen. „Es gibt keine Sonderbehandlung hier, schließlich müssen sie bei den Abschlussprüfungen ebenso viel können wie andere Schüler und draußen durchhalten wie alle anderen“, so Lasthaus. „Wir gehen immer respektvoll miteinander um.“
Der Schulabschluss ist beiden Patienten sehr wichtig. „Ich habe dann ein Standbein, wenn ich wieder draußen bin“, so Nils W. „Mein Ziel ist eine Ausbildung. Der Unterricht bringt auch Struktur in meinen Tagesablauf.“ Maik S. sieht darin ebenfalls einen großen Vorteil: „Wenn wir draußen sind, müssen wir ja auch regelmäßig zur Arbeit gehen.“
Ziele haben die beiden auch. „Ich möchte später als Einzelhandelskaufmann im Sportbereich arbeiten“, so etwa Nils W. „Er hat gute Chancen“, bekräftigt Lasthaus. „Wir wollen, dass unsere Schüler eine echte Perspektive haben, und keinen Drehtüreffekt erreichen“, so der Lehrer.
Autor:Tobias Weskamp aus Kamen |
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