Arbeiten bis zum Umfallen - Rente erst mit 67?

Auch Metzgermeister Karl-Heinz Flechsig steht mit seinen 68 Jahren noch hinter der Fleischtheke - streckenweise jedenfalls.
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Arbeitsministerin Ursula von der Leyen legte jetzt im Bundestag den Bericht zur Rente mit 67 vor – ein Thema, das das Land ebenso beunruhigt wie spaltet.
„Von der letzten Schicht zum jüngsten Gericht“ - so kommentiert Gewerkschafter Mario Unger, Vorsitzender des IGBCE-Regionalforums Bergkamen, das zweifelhafte Vorhaben der Bundesregierung.
„Augenwischerei“ sei das Thema für ihn, so Unger. Die Rente mit 67 Jahren sei keine Lösung des Problems der Rentenversorgung, ganz im Gegenteil: Die Regierung solle sich lieber darauf konzentrieren, sichere und sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze zu schaffen, damit die jüngeren Arbeitnehmer in die Lage versetzt werden, die Rentenbezüge für die Älteren - und natürlich für sich selbst - erwirtschaften zu können.
Abgesehen davon seien heutzutage ohnehin nur rund zehn Prozent der Arbeitnehmer, die älter als 60 Jahre sind, noch vollzeitbeschäftigt, die meisten seien in Altersteilzeit, so Unger. „Die Rente mit 67 muss auf jeden Fall vermieden werden, wir müssen über andere Instrumente nachdenken“, so Ungers Fazit. Auch Ingrid Berkemann (73), Inhaberin des alteingessenen Cafés Ebbinghaus in der Weststraße und seit 60 Jahren „an der Schippe“ bzw.hinter der Kuchentheke, verfolgt das Thema „Rente mit 67“ - das für sie eigentlich nie eines war. Natürlich hat auch sie Rentenansprüche gesammelt, aber „damit allein würde ich nicht weit kommen“, sagt Ingrid Berkemann. „Als meine Mutter mich 1950 an die Hand genommen und mir das Ladenlokal in der noch großteils zerstörten Kamener Innenstadt zeigte, hat sie gesagt: ‚Schau her, das ist das Einzige, was wir noch haben’“, erinnert sich die rüstige 73-Jährige. Seit dieser Zeit steht Ingrid Berkemann täglich bis zu elf Stunden in ihrem Geschäft – und tut es immer noch gerne, „allein schon, um eine Aufgabe zu haben und nicht zum alten Eisen zu gehören“, sagt sie. Aber eben auch aus finanziellen Gründen, denn dadurch, dass sie von Jugend an immer ein recht spärliches Gehalt bezogen habe, seien auch ihre Rentenansprüche verhältnismäßig mager.
Sich selbst sieht Ingrid Berkemeier schon als Ausnahmefall. „Menschen, die auf dem Bau oder untertage arbeiten oder gearbeitet haben, kann man mit Mitte, Ende sechzig einfach nicht mehr mit Rentenabschlägen dazu zwingen, weiterzumachen“, findet die Kamenerin. Wie lange sie selbst noch in der Lage ist, ihren Laden zu führen, kann sie nicht einschätzen - aber so lange, wie sie noch kann, will sie auf jeden Fall für ihre Kunden da sein.
Ähnlich sieht das auch Karl-Heinz Flechsig, der seine Metzgerei zwar offiziell an seinen Sohn übergeben hat, aber dennoch jeden Tag „mit anpackt“. „Ich stehe zwar nicht mehr an vorderster Front, aber solange es gesundheitlich noch geht, werde ich helfen,“ erklärt der 68-Jährige. Für ihn ist das Thema „Rente“ längst noch nicht aktuell.
Auch in der jüngeren Generation wird gegrübelt: Uhrmachermeister Lothar Becher ist erst 58 Jahre alt, weiß aber schon jetzt, dass er mit 65 bestimmt noch nicht in Rente gehen kann. „Wir werden mit 70 Jahren noch im Laden stehen“, prophezeit er für sich und seine Frau die berufliche Zukunft. „Als wir uns vor 40 Jahren selbstständig gemacht haben, dachten wir nicht daran, in die Rentenkasse einzuzahlen. Dafür war damals kein Geld da. Es ist übrigens heutzutage nicht selbstverständlich, dass jeder, der ein Geschäft eröffnet, damit auch alt werden kann. Viele gehen in Konkurs und dann?“

Auch Metzgermeister Karl-Heinz Flechsig steht mit seinen 68 Jahren noch hinter der Fleischtheke - streckenweise jedenfalls.
Mit 73 Jahren steht Ingrid Berkemann noch immer täglich bis zu elf Stunden in ihrem Geschäft in der Kamener Weststraße. 1950 fing sie an. Rente, egal ob mit 65 oder 67 Jahren, war für sie nie ein Thema.
Autor:

Anja Jungvogel aus Unna

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